Wissen umsetzen und Dialog fördern
Das Schweizer Gesundheitssystem sieht sich trotz Bemühungen einem steigenden Personalbedarf gegenüber und die Pflegeinitiative stellt den jüngsten Versuch dar, passende Lösungen zu finden. Doch wie können wirksame und relevante Massnahmen identifiziert und umgesetzt werden und wie kann verhindert werden, dass Inhalte bei Erreichung der Praxis so verwässert sind, dass nur ein Rinnsal ursprünglicher Empfehlungen ankommt?
Der Fachkräftemangel gefährdet das System
Im Gesundheitswesen wird vor allem über Finanzen diskutiert. Aber in Zukunft wird der Mensch die knappste Ressource sein.
«Integrated Knowledge Translation (IKT)»
Ein Schlüsselkonzept hierbei ist der Wissenstransfer («Knowledge Translation», KT) und insbesondere die «Integrated Knowledge Translation (IKT)».1 IKT sieht vor, potenzielle Nutzerinnen und Nutzer von Forschungsergebnissen von Anfang an in Forschungsprozesse einzubinden mit dem Ziel, die Perspektiven von Politik und Praxis zu berücksichtigen und Systemveränderungen zu antizipieren. Schon die einfache Frage «Was müssen Sie wissen, um Ihre Arbeit zu tun?» kann wichtige Erkenntnisse liefern. Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger können so ihre Fragen und Bedürfnisse frühzeitig in Forschungsprojekte einbringen und ihren Bedarf bezüglich evidenzinformierten Entscheidungsgrundlagen decken.
IKT-Massnahmen umsetzen
Um IKT nachhaltig zu fördern, sind Massnahmen notwendig, die über herkömmliche Projektförderung hinausgehen:
- Ressourcen bereitstellen: Trotz der kontinuierlichen Betonung von Wissenstransferaktivitäten in Forschungsprojekten mangelt es oft an Ressourcen für deren Umsetzung. Die Nationalen Kooperationszentren für Public Health in Kanada, die jährlich mit 5,8 Millionen Dollar (2019) unterstützt werden, sind ein Beispiel für die erfolgreiche Förderung von solchen Aktivitäten. Während der Covid-19-Pandemie spielten die Zentren eine entscheidende Rolle, indem sie Fachpersonen und Entscheidern Ressourcen und Unterstützung für evidenzbasierte Entscheidungen bereitstellten.
- Kompetenzen fördern: Führungskräfte auf allen Ebenen – ob in der Praxis, Verwaltung oder Forschung – müssen die Entwicklung von Kompetenzen unterstützen, die den Wissenstransfer fördern. Dazu gehören Aus- und Weiterbildungen, die den Austausch zwischen Fachleuten verschiedener Disziplinen stärken und Silodenken aufbrechen. Ein Beispiel ist z. B. das «Emerging Health Care Leaders (EHCL)»-Programm des Nationalen Forschungsprogramms (NFP) 74 «Gesundheitsversorgung». Das erfolgreiche Programm für Nachwuchsforschende soll weiterentwickelt und für künftige Entscheidungsträger aus Politik und Praxis geöffnet werden.
- Transdisziplinäre Teams einsetzen: Transdisziplinäre Teams bringen diverse Perspektiven und Wissensbereiche zusammen, fördern die Beteiligung von Stakeholdern und erleichtern die Umsetzung von Forschungsergebnissen. Die Canadian Institutes for Health Research (CIHR) z. B. fordern in einer aktuellen Ausschreibung zu Forschung zum Fachkräftemangel explizit gemeinsame Anträge von Forschenden, Entscheidungsträgern und Gesundheitsfachpersonen.
- Partnerschaft, kollektives Handeln und Unterstützung: Interaktion und Partnerschaften sind entscheidend für die Identifikation von Ressourcen und die technische Unterstützung. Beispiel: Partnerschaften zur Identifikation gemeinsamer Ziele.
- Kultur: Grundwerte ermöglichen ein gemeinsames Verständnis von KT, dessen Wert und den zu erwartenden Aktivitäten. Beispiel: Schulungen für Mitarbeitende und Entscheidungsträger zur Förderung des Verständnisses und der Wertschätzung von KT.
- Governance: Regelungs- und Steuerungsfunktionen, inkl. Strukturen, Mandate oder Plattformen, die Forschung und Politik verbinden. Beispiel: Ein Ausschuss für Gesundheitsforschung zur Koordination von Forschung und Politik.
- Führung und Engagement: Unterstützung und Mentoring durch Führungskräfte sind entscheidend für evidenzinformierte Politik. Beispiel: Hochrangige Führungskräfte setzen sich mit Taten und Worten für evidenzbasierte Entscheidungen ein.
- Ressourcen: Für die Institutionalisierung evidenzinformierter Politik sind personelle, finanzielle und materielle Ressourcen zentral. Beispiel: Ein Budget für KT-Aktivitäten und speziell ausgebildetes Personal zur Unterstützung von KT-Prozessen.
- Standards und Routineprozesse: Für qualitativ hochwertige KT-Produkte und -Prozesse, denen Entscheidungsträger vertrauen. Beispiel: Standardisierter Leitfaden für den Einbezug von Forschungsergebnissen in politische Entscheidungsprozesse.
Die Grafik bezieht sich auf Wissenstransfer (Knowledge Translation – KT) allgemein und nicht speziell auf den integrierten Ansatz (IKT).
Massnahmen in der Schweiz
Für die Institutionalisierung von IKT sind ausreichende Ressourcen sowie eine kritische Masse an Personen, die Evidenz aktiv und routinemässig anwenden, zentral. Für die Pflegeinitiative z. B. bedeutet das obengenannte konkret, dass transdisziplinäre Teams auf allen Ebenen von Anfang an beteiligt sein müssen. Neben Begleitforschung müssen bestehende Best Practices analysiert und institutionengerecht aufbereitet werden. Hierfür sind Plattformen erforderlich, die den Austausch unterstützen – sowohl zwischen den Disziplinen als auch zwischen föderalen Ebenen. Ebenfalls wichtig sind das Begleitmonitoring und die Nutzung existierender Datenquellen (z. B. Schweizer Kohorten-Studie der Gesundheitsfachkräfte und pflegenden Angehörigen) für die iterative Anpassung von Massnahmen. Solche routinemässigen Prozesse, wie von der WHO2 empfohlen, sind entscheidend für die Verankerung von Wissenstransfer in politische Entscheidungsprozesse. Ein Beispiel für diesen routinemässigen Austausch ist die Schweizer Initiative «Smarter Health Care System», die aus dem NFP 74 und dem Swiss Learning Health System (SLHS) entstanden ist und den Dialog zwischen verschiedenen Akteuren fördern soll. Sie wird unter dem Dach der Swiss School of Public Health (SSPH+) und in Partnerschaft mit dem BAG, der GDK, dem Obsan, dem Swiss Personalized Health Network (SPHN) umgesetzt.
Quellen
- Lawrence, L. M., Bishop, A., & Curran, J., Integrated knowledge translation with public health policy makers: a scoping review, Healthcare Policy, 14(3), 55, 2019.
- Kuchenmüller, T., & Dos Santos Boeira, L., Routinizing the Use of Evidence in Policy – What is Needed?; Comment on “Sustaining Knowledge Translation Practices: A Critical Interpretive Synthesis”, International Journal of Health Policy and Management, 2023.