Wie kann man im Gesundheitswesen Kosten senken?
Patrick Rohr (PR): Laut neusten Zahlen der Konjunkturforschungsstelle der ETH sollen die Gesundheitskosten im nächsten Jahr auf weit über 80 Milliarden Franken steigen, pro Kopf betragen sie dann mehr als 10 000 Franken im Jahr. Sind die Gesundheitskosten in der Schweiz zu hoch?
Sebastian Frehner (SF): Ja. Und wir geben nicht nur zu viel aus, wir bekommen auch nicht die Qualität, die nötig wäre.
Die Suche nach Kostenbremsen
Das Kostenwachstum ist und bleibt ein negatives Nebenprodukt der Entwicklung im Gesundheitswesen. Deshalb lanciert die CSS die Suche nach Kostenbremsen.
PR: Wie sehen Sie das, Frau Birrer-Heimo?
Prisca Birrer-Heimo (PB): Wir haben ein qualitativ hochstehendes Gesundheitswesen, aber die Prämienbelastung ist für viele Bürgerinnen und Bürger zu hoch geworden. So kann es nicht weitergehen.
PR: Das heisst, man müsste die Gesundheitskosten plafonieren oder gar senken?
PB: Besser wäre, mit weniger Kosten eine gute Versorgung hinzubekommen. Ich bin überzeugt, dass das möglich ist. Zum Beispiel über spezialisierte Zentren.
SF: Das wäre eine sozialistische Massnahme – staatlich verordnete Zentren
PB: Nein, es wäre eine konsumenten- und patientenfreundliche Massnahme.
SF: Was wir brauchen, ist mehr Wettbewerb: Entweder man hebt das Obligatorium ganz auf, oder man einigt sich darauf, dass nur noch eine minimale Grundversorgung obligatorisch versichert ist. Beides würde zu einer massiven Senkung der Kosten führen.
«Wir haben ein qualitativ hochstehendes Gesundheitswesen, aber die Prämienbelastung ist für viele Bürgerinnen und Bürger zu hoch geworden. So kann es nicht weitergehen.»
Prisca Birrer-Heimo
PR: Sie würden das Obligatorium aufheben?
SF: Das ist politisch nicht mehrheitsfähig. Das Problem ist, dass wir heute ein planwirtschaftliches System mit marktwirtschaftlichen Elementen haben. Die verschiedenen Stakeholder verhalten sich in diesem regulierten Markt wettbewerblich. Jeder maximiert seinen Gewinn, das ist ja auch normal in einer Marktwirtschaft. Darum gibt es nur zwei Möglichkeiten: möglichst viel Wettbewerb mit keinem oder einem minimalen KVG Obligatorium, oder dann möglichst alles regulieren, um die Kosten so zu dämpfen. Ich bin für das freiheitliche Modell.
PB: Es darf doch nicht davon abhängen, ob jemand Geld hat oder nicht, um medizinische Leistungen zu beanspruchen, wenn er krank ist oder einen Unfall hat! In einer solidarischen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die die Würde des Einzelnen achtet, können alle Menschen, die krank sind, medizinische Leistungen beziehen. Und die müssen solidarisch finanziert sein. Das so finanzierte Modell der Krankenversicherung ist ein wichtiger Pfeiler einer solidarischen Gesellschaft.
PR: Aber ist nicht genau ein Problem, dass zu viele Leute den Solidaritätsgedanken für sich ausnützen und die Gesundheitskosten auch darum so hoch sind?
PB: Nein, das Problem sind andere Fehlanreize im System: die vielen medizinischen Leistungen zum Beispiel, die gar nicht nötig wären, die die Ärzte aber verschreiben, weil sie daran verdienen. Oder der Wettbewerb unter den Spitälern. Wettbewerb mag in vielen Bereichen gut sein, im Gesundheitswesen funktioniert er nicht.
SF: Es gibt ja eben kaum Wettbewerb!
PB: Natürlich gibt es ihn. Ich habe jahrelang in einem Kantonsspital gearbeitet. Zu dieser Zeit hatten viele Spitäler noch keine Geräte, um zum Beispiel Biopsien bei Brusterkrankungen zu machen. Eine Privatklinik im Kanton hatte ein solches Gerät. Das Kantonsspital, im Wettbewerb mit dieser Klinik, schaffte dann logischerweise auch eines an. Und ja, dann mussten diese Geräte natürlich auch ausgelastet sein. So entstehen mehr Leistungen – wegen des Wettbewerbs.
SF: Das ist eben genau kein Wettbewerb! Jedes Spital kann eine Leistung verrechnen, egal, ob sie nötig ist oder nicht. Natürlich gibt es eine gewisse Kontrolle durch die Versicherungen, aber wenn der Arzt zu Frau Müller sagt: «Jetzt hören wir noch mal das Herz ab», dann akzeptiert Frau Müller das. Der Arzt kann sich selber Umsatz verschaffen. Und das Schöne ist: Frau Müller kostet es nichts, einmal abgesehen von Franchise und Selbstbehalt.
PB: Ja, aber in Ihrem System könnte man nur noch medizinische Leistungen beziehen, wenn man Geld hat.
SF: Lassen Sie mich den Gedanken zu Ende führen, es kommt nämlich noch etwas dazu: der Vertragszwang. Wenn die Spitäler nur noch abrechnen könnten, wenn sie Verträge mit den Versicherern haben, dann würde das dazu führen, dass diese Spitäler qualitativ gut sein müssten. Heute muss im Gesundheitswesen niemand Qualität erbringen. Im Gegenteil: Wenn der Arzt schlecht behandelt, kommt der Patient einfach noch einmal. Ist doch toll! Ich bin Unternehmensberater; wenn ich eine Restrukturierung falsch mache, bin ich diesen Klienten los. Ich kann meinem Kunden nicht sagen: «Komm noch einmal», und verdiene doppelt. Und bezahlen tut dies die Allgemeinheit. Dieses System ist doch pervers.
PR: Ist die Perversion nicht, dass Ärzte Boni bekommen, wenn sie einen grösseren Umsatz machen, also möglichst viele teure Behandlungen und Operationen verschreiben?
SF: Das ist ja genau, was ich sage: Die Akteure verhalten sich in einem kranken regulierten System marktwirtschaftlich. Ich versuche doch auch, den Gewinn meiner Firma zu maximieren. Man kann keinem Arzt oder Spitaldirektor sagen, er dürfe das nicht.
«Schlimmer als die Ärzte sind nur die Bauern. Beide verteidigen ihre Positionen so lang, bis es nicht mehr geht.»
Sebastian Frehner
PR: Aber das ist doch ein Ausfluss des Wettbewerbs?
SF: Im Gegenteil, das ist der Ausfluss der Regulierung! Wenn es die nicht gäbe, könnten die Spitäler ihre Leistungen nicht über die Krankenversicherer abrechnen. Dann müssten sie schliessen, wenn die Patienten ihre Leistungen nicht bezahlen möchten.
PB: Das Gut der Gesundheit ist doch nicht ein Gut, das man wie einen Fernseher oder eine Packung Reis auf dem Markt handeln kann.
SF: Mit diesem Argument können Sie jetzt noch 20 Jahre kommen, doch bis dann haben wir das Gesundheitswesen an die Wand gefahren.
PB: Ich bin mit Ihnen einig, wir brauchen mehr Transparenz. Wieso gibt es zum Beispiel in Basel x-mal mehr Kniearthroskopien als in Genf? Zwei vergleichbare Städte mit einer ähnlichen Bevölkerungsstruktur? Weil es in Basel offenbar viel mehr Orthopäden gibt! Da muss man ansetzen. Die Initiative Smarter Medicine macht es zum Beispiel, indem sie zusammen mit der Ärzteschaft schaut, welche Leistungen medizinisch wirklich nötig sind und welche nicht. So gibt es einen Wettbewerb unter den Spitälern oder Arztpraxen. Denn wenn ich als Patientin weiss, dass eine Praxis darauf achtet, nur das medizinisch Sinnvolle zu machen, gehe ich auch dorthin. Das führt zu weniger Leistungen.
SF: Das wird nicht funktionieren.
PB: Doch! Es braucht vor allem den Dialog. Wenn der Arzt mit dem Patienten ein Gespräch führt und ihm ehrlich sagt: «Wenn Sie diese Prostata-Operation machen, können Sie möglicherweise länger leben, aber Sie werden vielleicht inkontinent oder impotent», dann kann der Patient entscheiden, was ihm wichtiger ist – ein allenfalls längeres Leben mit Beeinträchtigungen oder ein kürzeres mit mehr Lebensqualität.
SF: Sie denken, der Arzt verzichtet freiwillig auf Lohn? Sicher nicht! Ich sage das jetzt ganz bewusst als Vertreter der SVP: Schlimmer als die Ärzte sind nur die Bauern. Beide verteidigen ihre Positionen so lang, bis es nicht mehr geht. Ein Beispiel: das elektronische Patientendossier. Warum machen da die Ärzte nicht mit? Weil es sie einschränkt! Weil sie dann nicht mehr machen können, was sie wollen. Die Versicherer würden dann nämlich plötzlich sehen, wenn bei jemandem, bei dem man bereits eine Tomographie gemacht hat, noch einmal eine gemacht wurde.
PR: Herr Frehner, Sie haben vorhin den Vertragszwang angesprochen. Würde es wirklich die Kosten senken, wenn man ihn aufheben würde? SF: Es ist ja logisch, dass das die Kosten senkt.
PR: Warum?
SF: Je mehr Ärzte oder Spitäler es gibt, desto höher sind die Kosten.
PR: Wenn die Versicherer die Wahlfreiheit hätten, mit wem sie zusammenarbeiten möchten, gäbe es weniger Ärzte?
SF: Klar. Und die Qualität würde sich verbessern, weil die Krankenversicherer zum Beispiel sagen könnten: «Wir arbeiten nur mit Ärzten zusammen, die ein elektronisches Patientendossier haben.»
PB: Dann würde man ja die ganze Macht zu den Krankenversicherern verschieben. Sie könnten bestimmen, wessen Leistungen sie abgelten würden. Aber nach welchen Kriterien? Ist denn ein Arzt, der beim elektronischen Patientendossier mitmacht, ein besserer Arzt? Bei den Krankenversicherern bräuchte es zusätzlich Ärzte, die beurteilen, ob die Leistungen der anderen Ärzte gut genug sind. Es gäbe einen Riesenapparat, und der würde auch wieder kosten.
SF: Wir haben zu viele Spitäler und Ärzte; das wäre eine Möglichkeit, die Zahl zu verringern.
PR: Eine andere Möglichkeit ist der Ärztestopp, aber dagegen wehrt sich die SVP.
SF: Ja, weil ein Ärztestopp vom Prinzip her wettbewerbsfeindlich ist.
PB: Ihr habt da eine ideologische Barriere.
SF: Wettbewerb zeitigt immer die besseren Ergebnisse als kein Wettbewerb.
PR: Der Ärztestopp wäre doch ein einfaches Mittel, um die Zahl der Ärzte zu verkleinern?
SF: Der Ärztestopp verschlechtert die Qualität, weil nicht die Besten überleben, sondern die, die schon da sind und mit allen Mitteln ihre Pfründen verteidigen.
PR: Das machen andere Player auch, zum Beispiel die Krankenversicherer. Denken Sie, es wird sich je etwas ändern, solange Krankenversicherungs-Lobbyisten wie Sie im Parlament vertreten sein dürfen?
SF: Ja, klar. Ich will ja etwas ändern, ich will mehr Wettbewerb und sinkende Kosten.
PR: Aber Sie wollen natürlich auch, dass es Ihrer Kasse gut geht.
SF: Wir haben nun einmal ein System, in dem Interessenvertreter im Parlament sitzen dürfen. Wie zum Beispiel Frau Birrer- Heimo als Konsumentenschützerin. In einem anderen Land dürfte sie das nicht.
PB: Moment, das kommt doch auf die finanziellen Abhängigkeiten an.
SF: Die Abhängigkeiten sind systemimmanent. Das Problem im Gesundheitsmarkt ist nur, dass es da um Geld der Allgemeinheit geht. Doch je regulierter und verstaatlichter das System ist, desto mehr geht es um Staatsgelder.
PB: Das ist der entscheidende Punkt: Es geht um Gelder der Allgemeinheit, und für Gelder der Allgemeinheit braucht es auch eine Steuerung durch die Allgemeinheit, also die Politik. Und die sollte möglichst nicht von Abhängigkeiten beeinflusst sein.
SF: Dann dürften Sie aber nicht mehr Nationalrätin sein. Als Konsumenten- und Patientenvertreterin sind Sie nämlich auch nicht unabhängig. Entweder wir lassen alle oder keine Interessenvertreter zu.
PR: Wie viel verdienen Sie als Konsumentenschützerin, Frau Birrer-Heimo?
PB: 18 000 Franken brutto im Jahr.
SF: Das schafft doch auch eine Abhängigkeit; mit diesem Betrag dürften Sie, nach Ihren eigenen Kriterien, nicht mehr im Parlament sein!
PB: Ich bin nicht finanziell abhängig von diesem Mandat, den grössten Teil erledige ich bewusst ehrenamtlich, und mein Amt als Nationalrätin übe ich unabhängig und nach bestem Wissen und Gewissen aus.
SF: Meine Abhängigkeit als Beirat der Groupe Mutuel ist nicht grösser. Und es schreibt mir dort auch niemand vor, was ich zu tun habe.