Diabetes: Warum hat die Prävention versagt?
Margaret Chan bezeichnete 2017 die Zunahme chronischer Krankheiten als Pandemie und rüttelte damit das Gesundheitswesen auf. Sechs Jahre später erscheint dieses vorausgesagte «slow-motion disaster» wie ein unabwendbares Schicksal. Während 3,8 Prozent der Menschen in der Schweiz um die Jahrtausendwende über Diabetes berichteten, sagt die International Diabetes Federation bis 2045 nicht weniger als 8,6 Prozent voraus. Dies entspricht einem Anstieg um 4,8 Prozentpunkte innert knapp 50 Jahren. Ähnlich sieht es bei allen chronischen Krankheiten aus, die bereits jetzt 25 Prozent der Bevölkerung betreffen und für 80 Prozent der Gesundheitskosten verantwortlich sind.
Prävention: viele Player, viele Ziele
Trotzdem fristet Prävention im KVG ein Nischendasein. Sind die Aufträge und Mittel richtig verteilt?
Dies bedeutet menschliches Leid. Gerade weil die ehemalige WHO-Generaldirektorin auf die sich anbahnende Katastrophe aufmerksam gemacht hatte, ist es immer schwer zu ertragen, wenn Betroffene sagen: «Hätte ich das nur früher gewusst!» Meist entwickelt sich der Typ-2-Diabetes unbemerkt. Wird er erkannt, geht es vor allem um Schadensbegrenzung. Das bedeutet: sich von alten Gewohnheiten lösen, den Alltag verändern. Oft geht es schlussendlich nicht ohne Medikamente.
Ein zweifelhaftes Dream-Team
Als vor 100 Jahren Insulin in den Handel gebracht wurde, war dies für Personen mit Typ-1-Diabetes die Rettung. Heute zählt die Behandlung von Diabetes zu den rentabelsten Märkten: Das «Swissquote Magazine» bezifferte den Umsatz des Marktleaders mit einem führenden Antidiabetikum im Jahr 2022 auf 8 Milliarden Euro und schätzte den Marktzuwachs bis 2030 auf 90 Milliarden Dollar.
Und welche Rolle spielt die Prävention? Vor zehn Jahren lehnte der Ständerat das Präventionsgesetz ab. Obwohl die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer zu viel Zucker konsumiert und 4 Prozent der Kinder und Jugendlichen adipös sind, scheitern die parlamentarischen Vorstösse für die Einführung einer Sondersteuer auf Süssgetränke oder einer verbindlichen Anzeige des Nutri-Scores. Dabei ist der Zusammenhang zwischen übermässigem Zuckerkonsum und chronischen Krankheiten wie Adipositas, Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht von der Hand zu weisen. Fast könnte man ein böses Spiel dahinter vermuten: Erst legen wir durch Zuckerzusatz, insbesondere High Fructose Corn Syrup (HFCS), Gewicht zu und dann helfen uns GLP-1-Medikamente, wieder abzunehmen. HFCS und GLP-1-Medikamente als Dream-Team? Klar ist, dass beide in dieselbe Richtung blicken: auf den Gewinn.
«Erst legen wir durch Zuckerzusatz Gewicht zu und dann helfen GLP-1-Medikamente, abzunehmen.»
Léonie Chinet
Womit kann man heute, wo die Co-Benefits – also die positiven Wechselwirkungen zwischen Gesundheit und Umwelt – stets mitbedacht werden, den hochverarbeiteten Lebensmitteln und den Medikamenten besser entgegenhalten als mit einem gesunden Lebensstil, ausreichend Bewegung und ausgewogener Ernährung? Denn sanfte Mobilität, lokal angebautes Obst und Gemüse auf dem Menüplan sowie die Einschränkung des überall erhältlichen Junkfoods sind wirksame Massnahmen, um die wirtschaftlichen, ökologischen und menschlichen Folgen chronischer Krankheiten einzudämmen.
Kräfte für das gemeinsame Ziel bündeln
Die für die Prävention zur Verfügung stehenden Mittel sind trotz der kürzlichen Erhöhung des KVG-Prämienanteils immer noch lächerlich gering. Um eine echte (R)Evolution zu bewirken, gilt es, unsere Kräfte für gemeinsame Ziele zu bündeln. Bei der Überwindung der zögerlichen Haltung von Behörden, Institutionen und Akteuren des Gesundheitswesens kommt den Patientenorganisationen eine Schlüsselrolle zu. Nach dem Vorbild der von diabètevaud lancierten Initiative MAYbe Less Sugar und in Zusammenarbeit mit Partnern aus der öffentlichen Gesundheit können sie eine effizientere Prävention anstreben: Gesundheitliche Belange müssen in allen politischen Entscheidungen berücksichtigt, strukturelle Präventionsmassnahmen umgesetzt und umfangreiche Investitionen in die Primärprävention getätigt werden. Zudem können die Patientenorganisationen die Debatte in die Öffentlichkeit tragen. Dazu müssen sie ihren Platz am Verhandlungstisch einfordern und die Gesellschaft davon überzeugen, sie bei der Erfüllung ihres Auftrags zu unterstützen.