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Solidarität neu definieren

Eine risikounabhängige Prämie ohne Kostenbeteiligungen führt zu einer Vollkasko-Mentalität. Das widerspricht dem Urprinzip der Versicherung: der Eigenverantwortung. Haben wir die moralische Verpflichtung, eigenverantwortlicher zu werden?

Martin Eling, Professor für Versicherungsmanagement und Direktor des Instituts für Versicherungswirtschaft an der Universität St. Gallen.

13. Februar 2019

Eigenverantwortung ist spätestens seit Einführung des KVG im Jahr 1996 ein zentrales Thema der schweizerischen Krankenversicherung. Während sich andere Länder seit jeher eher zurückhalten in der Verwendung von Franchisen und anderen Kostenbeteiligungen, hat die Schweiz über viele Jahre eine Vorbildfunktion für andere Länder eingenommen. Eigenverantwortung hat zum Ziel, ein gesundheitsbewusstes Verhalten aktiv zu fördern und auch Kostensteigerungen im Gesundheitssektor zu begrenzen. Dennoch hat in der Schweiz eine erhebliche Mengenausweitung der medizinischen Leistungen stattgefunden, sodass wir (gemessen anhand der Gesundheitskosten zur Wirtschaftsleistung) inzwischen nach den USA das zweitteuerste Gesundheitssystem der Welt unterhalten. Es stellt sich daher die Frage, ob der Aspekt der Eigenverantwortung im Schweizer Gesundheitssystem tatsächlich funktioniert und ob er überhaupt relevant ist für die Entwicklung der Gesundheitskosten. Die Frage nach der Eigenverantwortung gewinnt auch vor dem Hintergrund der zunehmenden Nutzung von «pay as you live»-Elementen in der Krankenversicherung an Relevanz und ist auch in der medialen Berichterstattung sehr präsent (z.B. «my step» der CSS oder das Bonusprogramm «Helsana+» der Helsana).

Eigenverantwortung im Gesundheitswesen

Bei den Zähnen funktioniert‘s

Zu Beginn eine kleine Anekdote, die zeigt, dass Eigenverantwortung im Schweizer Gesundheitssystem funktioniert. Ich kann mich noch gut erinnern, wie irritiert ich war, als ich kurz nach meinem Umzug von Deutschland in die Schweiz einen Kollegen Zähne bürstend in der Mittagskantine antraf. Im Nachhinein ist die Irritation aber unbegründet und einfach zu erklären. Denn während die deutschen Krankenversicherungen Leistungen für Zahnerkrankungen in gewissem Umfang übernehmen, sind diese in der Schweiz komplett ausgeschlossen und können nur über teure Zusatzversicherungen abgedeckt werden. So überrascht es denn auch nicht, dass die Zahngesundheit in Deutschland signifikant schlechter ist als in der Schweiz. Eigenverantwortung und Moral Hazard (hier: Verhaltensbeeinflussung durch Versicherung) in Reinform. Niemals hatte ich in Deutschland einen Arbeitnehmer angetroffen, der eine Zahnbürste zur Arbeit bringt.

An diesem Beispiel zeigt sich die enorme Bedeutung der Assekuranz in unserem Alltag und wie wesentlich die Anreize für risikoadäquates Verhalten sind. Dies kann auch kritisch gesehen werden, wenn etwa den Versicherern vorgeworfen wird, sie sollen nicht erzieherisch auftreten. Jeder Mensch hat das Recht, ungesund zu leben. Aber warum soll die Solidargemeinschaft für den ungesunden Lebensstil Einzelner vollumfänglich zur Verantwortung gezogen werden? Ist es moralisch nicht doch fragwürdig, dass diejenigen, die zeitlebens auf Gesundheit und Ernährung achten, für diejenigen, die dies gar nicht interessiert, in erheblichem Umfang zu zahlen haben? Eine gewisse Berücksichtigung des eigenen Risikoverhaltens mag für die nachhaltige Tragbarkeit eines Versichertenkollektivs nützlich und sogar notwendig erscheinen. Denn jedes Mitglied eines Kollektivs hat die moralische Verpflichtung, den potenziellen Schaden für die Solidargemeinschaft möglichst gering zu halten. Das System muss allerdings Anreize schaffen, damit diese Verantwortung wahrgenommen werden kann.

Warum also nicht mehr Anreize für einen eigenverantwortlichen Umgang mit der eigenen Gesundheit setzen, wenn dies hilft, die Gesundheitskosten in einem vernünftigen Rahmen zu halten? Die Antwort ist leider nicht trivial. Denn es ist gar nicht einfach, eine Trennlinie zwischen dem eigenen Verhalten und externen Umwelteinflüssen zu ziehen. Dies wirft sehr schnell ethisch, sozialpolitisch und medizinisch heikle Fragen auf. Ist beispielsweise ein Raucher zu bestrafen? Im Fall der Krankenversicherung kommt zudem erschwerend hinzu, dass bestimmte Risiken gar nicht durch das eigene Verhalten beeinflusst werden können, sondern durch die Gene vorgegeben sind.

Eigenverantwortung in der Krankenversicherung

Im Bereich der Eigenverantwortung unterscheidet sich die soziale Krankenversicherung an einem substanziellen Punkt von der privaten Krankenversicherung. Denn während in der Privatassekuranz eine risikoadäquate Prämie und Ausschlüsse vorgesehen sind, gelten in der Sozialversicherung ein Kontrahierungszwang, ein einheitlicher Leistungskatalog und eine risikounabhängige Prämie. Dies bietet auch «schlechten» Risiken eine sozialpolitisch erwünschte Grundsicherung. Einer der Nachteile ist jedoch, dass die Funktion der Assekuranz in der Beeinflussung von risikoadäquatem Verhalten nicht mehr vollumfänglich funktionieren kann. Schlechtes Verhalten wird nicht mit einer höheren Prämie sanktioniert. Dementsprechend bedarf der Aspekt der Eigenverantwortung anderer Instrumente und einer besonderen Aufmerksamkeit.

Eine risikounabhängige Prämie ohne Kostenbeteiligungen führt zu einer Vollkasko-Mentalität derart, dass der Patient im Krankheitsfall keinerlei Interesse an den Kosten hat. Man möchte die beste Behandlung, Geld spielt keine Rolle. Hinzu kommt das Spannungsfeld zwischen Patient, Leistungserbringer und Versicherer. Auch der Arzt hat per se kein Interesse an geringen Kosten, sondern wünscht eine hohe Auslastung seiner Praxis. Dementsprechend ist der Moral Hazard in der Krankenversicherung noch deutlich vielschichtiger und komplexer als in einer einfachen bilateralen Beziehung zwischen Kunde und Versicherer.

Eigenverantwortung stärken

Eigenverantwortung kann aber auf vielfältige Art und Weise gestärkt werden. Zu den in der Schweiz eingesetzten Instrumenten gehören die Selbstbeteiligung, Franchisen, Bonus-/Malus-Ansätze sowie Ausschlüsse vom Leistungskatalog (wie das obige Beispiel der Zahnerkrankungen). Eine kritische Frage ist dabei stets die individuelle Tragbarkeit derartiger Beteiligungen, was in der Schweiz mitunter zu komplexen und wenig transparenten Formen der Umverteilung führt. Zwar ist die Notwendigkeit eines sozialen Ausgleichs unumstritten. Aber wer weiss schon nach Abzug von Rabatten, Prämienverbilligungen und sonstigen Subventionen, wer Netto-Zahler und Netto-Empfänger im Gesundheitssystem ist?

Ein erheblicher Teil der Gesundheitskosten ist auf das eigene Verhalten zurückzuführen. Laut aktuellen Studien lassen sich die Einflussfaktoren, die auf die Gesundheit der Bevölkerung wirken, in fünf Determinanten unterteilen (vgl. Marty/Salvi, 2018). Verhaltens- und Lebensweisen bestimmen dabei 38 Prozent des Gesundheitszustands. Hierzu zählen Ernährung und Bewegung sowie Risiko- bzw. Suchtverhalten etwa bezüglich Alkohol und Sport. Weitere Determinanten sind sozioökonomische Bedingungen wie Bildung, Einkommen oder Wohnsituation (19%), die Versorgungsqualität (11%), Umweltbedingungen (wie Klima, Katastrophen, Unfallwahrscheinlichkeit, zum Beispiel auf Strassen; 10%) sowie die Genetik (22%). Das eigene Verhalten ist folglich im statistischen Durchschnitt der wichtigste Faktor in der Erklärung der eigenen Gesundheit.

In Anbetracht dieser enormen Bedeutung erscheint es durchaus relevant, wie weit unser Gesundheitssystem auf Elemente der Eigenverantwortung setzt. Mehr Eigenverantwortung könnte für die Dinge, die man selbst beeinflussen kann, eingefordert werden. Beispielsweise könnten für bestimmte Krankheitsbilder, die in unmittelbarem Zusammenhang mit eigenem Verhalten stehen, höhere Selbstbeteiligungen oder gar Ausschlüsse vorgesehen werden. Selbstverständlich kann dies nicht völlig unabhängig von der finanziellen Tragbarkeit erfolgen. Dennoch zeigt das eingangs genannte Beispiel zur Zahngesundheit im Ländervergleich sehr eindrücklich, wie Eigenverantwortung unser Verhalten beeinflusst und zu einer besseren Gesundheit führt.

Zur Stärkung der Eigenverantwortung erscheint auch ein noch stärkerer Einbezug der Patienten sinnvoll. Ein Beispiel wären Versicherungsmodelle, in denen die Versicherer ihre Patienten vor Spitaleingriffen beraten, um die Versicherten für Qualitäts- und Kostenunterschiede zu sensibilisieren (vgl. Cosandey, Roten, Rutz, 2018). Wählen sie ein günstigeres, aber qualitativ gleichwertiges Angebot, werden sie für die resultierenden Kosteneinsparungen mit einer Gutschrift oder tieferen Prämien belohnt. Auch könnten verstärkt Massnahmen der Prävention im Gesundheitswesen eingefordert werden. Hier kann ein Vergleich mit ganz anderen Versicherungsbereichen interessante Perspektiven aufzeigen. So müssen etwa bei der Gebäudeversicherung vorsorgliche Massnahmen getroffen werden, um den Versicherungsschutz zu gewähren. Auch die oben genannten «pay as you live»-Ansätze sind in diesem Sinne als ein Beitrag zur Stärkung der Eigenverantwortung zu verstehen, wenn sie helfen, die Menschen zu einer besseren Gesundheit anzuleiten. Sie bewirken keine Entsolidarisierung, sondern ganz im Gegenteil: Die Solidarität kann nur funktionieren, wenn jeder seine Eigenverantwortung wahrnimmt.

Fazit

In einer Welt der stärkeren Eigenverantwortung könnte Solidarität primär für die Dinge genutzt werden, die aufgrund von Umwelteinflüssen und Genen nicht beeinflusst werden können. Dinge, die man durch eigenes Verhalten zu verschulden hat, werden teuer und setzen so wirksame Anreize zu einem risikobewussten Umgang mit dem eigenen Körper und finanziellen Ressourcen – den eigenen wie denjenigen der Solidargemeinschaft. Insgesamt bietet eine Stärkung der Eigenverantwortung damit eine Möglichkeit, Wirksamkeit und Effizienz des Gesundheitssystems zu stärken, die Kosten im Griff zu behalten und so die Nachhaltigkeit insgesamt sicherzustellen. Solidarität und Eigenverantwortung sind kein Widerspruch, sondern bedingen einander. Nur wenn ein verantwortungsvoller Umgang mit der eigenen Gesundheit und den finanziellen Ressourcen sichergestellt ist, kann auch die für die Gesellschaft so wichtige Solidarität dauerhaft gewährleistet werden.

Quellen: Cosandey, J., Roten, N., Rutz, S., Gesunde Spitalpolitik, Avenir Suisse, Zürich, 2018. Marty, F., Salvi, M., Wirtschaft bringt Gesundheit, economiesuisse, Dossier Politik #08/2018, 2018.

Martin Eling

Martin Eling ist Professor für Versicherungsmanagement und Direktor des Instituts für Versicherungswirtschaft an der Universität St. Gallen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der empirischen Versicherungsökonomik, hier unter anderem zur Zukunft der Sozialversicherung und der Generationengerechtigkeit.

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