Skandalisierungsrisiko Zweiklassenmedizin
Im Januar dieses Jahres lancierte das Gratismedium «20 Minuten» die Geschichte von Bettina R. Die 31-jährige Frau leidet unter Spinaler Muskelatrophie (SMA). Die Krankenkasse weigerte sich, eine vielversprechende, aber kostspielige Therapie zu bezahlen. Deshalb versuchte R., die Behandlung via Crowdfunding zu finanzieren. Im Zeitraum von wenigen Tagen wurden mehrere hochemotionale Artikel zum Leiden der Frau publiziert. Die Geschichte endete mit dem für die Patientin erfreulichen Resultat, dass innerhalb kürzester Zeit ein Betrag von 600 000 Franken gesammelt werden konnte.
Die Vergütung von Arzneimitteln im Einzelfall
Die Art. 71a–71d KVV sollen Lösungen ermöglichen. Nämlich, dass die Krankenversicherer in Ausnahmefällen entsprechende Medikamente vergüten können. Diese ursprünglich sinnvolle und pragmatische Regelung ist aus dem Ruder gelaufen. Wie weiter?
Ein anderes Beispiel stammt vom Sommer 2018. Ein Tessiner Arzt kritisierte eine Krankenkasse in der Tessiner Zeitung «La Regione», nachdem diese sich geweigert hatte, das Medikament für die Krebsbehandlung eines 12-jährigen Knaben zu zahlen. Die Geschichte fand daraufhin Anschluss in der Boulevardpresse der Deutschschweiz und der Romandie. Resultat war, dass die Krankenkasse schliesslich einlenkte.
Beiden Fällen gemeinsam ist, dass die Leidensgeschichten vor allem in der Gratis- und Boulevardpresse breite Beachtung fanden bzw. von diesen Medien kampagnenähnlich bewirtschaftet wurden. Das ist kein Zufall. Boulevard- und Gratismedien tendieren dazu, vermeintlich mehrheitsfähige gesellschaftliche Moralvorstellungen mit stark personalisierten und emotionalisierten Storys zu bearbeiten, um möglichst grosse Beachtung zu erzielen.
Die Narrative der aktuellen Skandalisierungen
Die jüngste Kritik an den Krankenkassen bei der Vergütungspraxis im Zusammenhang mit der Medikamentenabgabe im Einzelfall ist mit eine weitere Episode in der langen Geschichte medialer Skandalisierungen, die das Gesundheitswesen seit Jahren prägen. Grund dafür ist der zunehmende mediale und politische Druck auf die Gesundheitskosten (vgl. dazu Abbildung). Es handelt sich hierbei um «Moralwellen», die sich fallweise gegen die Industrie (zu hohe Medikamentenpreise), die Krankenkassen (zu hohe Prämien) oder gegen Leistungserbringer und Ärzte (Chefarztsaläre) richten können.
Die heutige Debatte um Gesundheitskosten ist durch zwei zentrale Narrative geprägt, die an unterschiedliche Wertehaltungen appellieren. Erstens steigt die öffentliche Kritik an den involvierten Akteuren, wonach die ungebremst steigenden Gesundheitskosten das System zu überlasten und die Akzeptanz des Gesundheitswesens aufs Spiel zu setzen drohen.
Zweitens gewinnt die stark moralisch geprägte Diskussion über eine drohende Zweiklassenmedizin und Rationierung der Gesundheitsleistungen wieder stark an Bedeutung. Mit der seit Monaten schwelenden Diskussion um exorbitante Therapie- und Medikamentenkosten wird eine in den letzten Jahren eher niederschwellige Debatte wieder aktuell: Wer bestimmt, wer in Zukunft Zugang zu Behandlungen und Medikamenten hat? Ist es ethisch vertretbar, dass jene Patienten Heilung erwarten können, welche die breiteste Beachtung in den Medien finden?
Die Krankenkassen befinden sich also in einer Zwickmühle, weil beide Narrative zentral für ihr Profil sind. Einerseits müssen sie ihrem Anspruch als «Anwälte der Prämienzahler» gerecht werden, andererseits dürfen sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen, zum Steigbügelhalter eines unsolidarischen Gesundheitswesens zu werden.
Diskussion um die Zweiklassenmedizin
Diese Quadratur des Kreises dürfte den öffentlichen Druck auf die Krankenkassen hoch halten. Einige Gründe sprechen dafür, dass wir uns hier erst am Anfang einer Entwicklung befinden. So hat der neue strategische Fokus der Pharmaindustrie auf seltene Krankheiten seit 2018 zu einer starken öffentlichen Debatte über exorbitante Kosten von Behandlungen und Medikamenten geführt (v.a. Kymriah und Zolgensma). Angesichts der Vielzahl von in der Pipeline befindlichen Therapien dürfte die Diskussion über die Zweiklassenmedizin weiter Nahrung finden. Gleichzeitig verändert sich das Mediensystem dahingehend, dass Skandalisierungskampagnen dieser Art zunehmen dürften. Die wichtiger werdende Social-Media-Kommunikation wird die Emotionalisierung der Debatte weiter anheizen und damit die Skandalisierungsrisiken für Krankenkassen und andere Akteure, die im Fokus der Debatte stehen (Stichwort: «Shitstorm»), erhöhen.
Krankenkassen werden angesichts des steigenden öffentlichen Drucks nicht umhinkommen, auf die Frage der Zweiklassenmedizin und auf die öffentlich geäusserten Rationierungsängste mit Lösungsvorschlägen zu reagieren, wenn sie sich medialer Skandalisierung und politischer Regulation nicht passiv aussetzen wollen. Dies erhöht zwar kurzfristig die Reputationsrisiken, stärkt aber langfristig ihr Profil als gesellschaftlich verantwortungsvolle Akteure und damit auch wieder die Akzeptanz des Gesundheitswesens insgesamt.