Sicht der Spitex auf integrierte Versorgung
Integrierte Versorgung ist in aller Munde. Für die Spitex ist die verbindliche und geplante Zusammenarbeit aller Versorgungspartner zentral. Je stringenter diese erfolgt, umso effektiver, effizienter und nachhaltiger kann ambulant gepflegt werden. Aber: Ohne den Einbezug und die aktive Kooperation von Patienten und ihren Vertrauenspersonen ist insbesondere im ambulanten Sektor die Versorgung weder erfolgreich noch nachhaltig wirksam. Die Spitex verfügt in diesem Bereich über eine langjährige Erfahrung; das Vereinbaren und Nutzen erfolgreicher Verbindungen und «Andockstellen» in der Versorgungskette gehört zu ihren Kernkompetenzen.
Integrierte Versorgung – wie weiter?
Statt dass alle Leistungserbringer zur rechten Zeit den richtigen Beitrag leisten können und wollen, herrscht noch immer Fragmentierung pur. Welche Voraussetzungen sind nötig, um integrierte Versorgung effektiv umzusetzen?
Wen und wie die Spitex betreut
Im Jahr 2018 pflegte und betreute die Spitex in der Schweiz fast 370 000 Personen. Dies entspricht knapp 4 Prozent der Gesamtbevölkerung. Bei rund zwei von drei Personen handelte es sich um Frauen und bei 44 Prozent um Personen ab 80 Jahren. Interessant ist der beträchtliche Anteil an Kundinnen und Kunden unter 65 Jahren, wobei die Mehrheit chronisch – somatisch oder psychisch – erkrankt ist (siehe Abbildung). Rund 47 Prozent aller betreuten Personen brauchen nur eine zeitlich beschränkte Unterstützung, sei es aufgrund einer palliativen Situation oder weil sie infolge einer Hospitalisation auf eine Intervention angewiesen sind (siehe Tabelle). Bei knapp der Hälfte aller Fälle ist also eine optimal aufeinander abgestimmte Zusammenarbeit der Versorgungspartner besonders wichtig. Bei psychiatrischen und palliativen Kunden funktioniert die enge interprofessionelle Zusammenarbeit bereits gut. Verbesserungspotenzial besteht insbesondere bei chronischen Erkrankungen wie z.B. Amyotropher Lateralsklerose (ALS) oder Multipler Sklerose (MS). Bei diesen müssen Ärzte, Sozialstellen und Versicherungen besonders eng zusammenarbeiten. Auch die Compliance der Betroffenen ist zentral, also die Bereitschaft der Kundinnen und Kunden, sich helfen zu lassen und den Informationsfluss zwischen den involvierten Stellen aktiv und positiv zu unterstützen.
Der Koordinationsbedarf variiert
Die verbindliche, geplante Zusammenarbeit aller Versorgungspartner ist – neben den palliativen Situationen – auch für all jene Kundinnen und Kunden von grosser Bedeutung, die mit chronischen Krankheiten zu Hause leben möchten. Die grosse Mehrheit von ihnen leidet zudem unter Mehrfacherkrankungen. Bei solchen Fällen besteht ein besonders hoher Koordinationsbedarf im Bereich der medizinisch-pflegerischen Abstimmung, konkret:
- Medikation resp. Polymedikation, Medikamenten-Compliance
- Therapeutische Absprachen, besonders Mobilisation
- Schmerztherapien, Advanced Care Planning bei komplexen, insbesondere palliativen Situationen
In diesen Situationen und mit den entsprechenden Versorgungspartnern erleben wir die Zusammenarbeit zunehmend besser, wenn auch vielfach noch nicht übergeordnet geplant. Das auf allen Ebenen vorhandene Engagement für den einzelnen Patienten erlaubt meistens eine reibungslose Zusammenarbeit. Förderlich für die Kooperation ist ausserdem, dass die Ärzte und Versorgungspartner die Kompetenzen des Pflegefachpersonals heute verstärkt wahrnehmen und dass das Personal hinsichtlich integrierter Versorgung zunehmend besser ausgebildet ist. Hinderlich hingegen sind häufig finanzielle Hürden, wenn es um nicht verrechenbare Leistungen wie Material, Medikamente oder ähnliche Aspekte geht. Darüber hinaus braucht die Koordination über die einzelnen Stellen hinweg Zeit, die oft nicht vergütet wird.
Integrierte Versorgung bei chronisch mehrfach erkrankten Menschen umfasst aber noch sehr viel mehr. So müssen zusätzlich mit den entsprechenden Partnern aus Versicherungen, Sozialbehörden usw. sowie Kundinnen und Kunden und deren Vertrauenspersonen Fragen angegangen werden wie:
- Hat der Kunde ein soziales Umfeld, oder ist er einsam? Wie viel soziale Integration möchte er?
- Wie ist die Wohnsituation, braucht es eine Anpassung?
- Braucht es ein Case Management?
- Wie ist die Finanzierung sichergestellt, wenn kein Arbeitseinkommen mehr erzielt werden kann?
- Ist eine ergänzende Finanzierung notwendig, z.B. Ergänzungsleistungen (EL)?
- Überfordern ihn die vielen Rechnungen, ist hier professionelle Entlastung nötig?
Vielfach verunsichern die unterschiedlichen Haltungen und Ratschläge der involvierten Fach- und Vertrauenspersonen zusätzlich, und auf kommunikativer Ebene wäre eine Abstimmung oft hilfreich.
Das «informelle» Helfernetz ist wichtig
Nicht vergessen darf man im Rahmen der integrierten Versorgung auch, dass sehr viele Kundinnen und Kunden unter kognitiven Einschränkungen oder (vorübergehenden) psychischen Störungen wie z.B. Depressionen aufgrund chronischer Krankheiten leiden. Entsprechend schwierig ist es, ein funktionierendes Helfersystem aus An- und Zugehörigen, Nachbarn oder Menschen aus sozialen Netzwerken vor Ort für diese Menschen aufzubauen. Tatsächlich scheitert eine gute Versorgung häufig am mangelnden Einbezug eines solchen Systems. Dessen Aufbau kostet zunächst Zeit und Geld, wird von niemandem bezahlt, und die positiven Effekte zeichnen sich oft erst später ab. Zusammenfassend stehen für die Spitex im Bereich der integrierten Versorgung also gut funktionierende Nahtstellen zwischen den «formellen» Versorgungspartnern im Fokus. Hier hoffen wir, mit dem elektronischen Patientendossier (EPD), Swiss Health Information Processing (SHIP) und anderen digitalen Kommunikationssystemen weitere wichtige Schritte zu machen. Koordinierte Versorgung im ambulanten Setting bei mehrfach chronisch erkrankten Menschen gelingt aber in aller Regel nur, wenn auch das informelle «Helfernetz» in die Koordination eingebunden ist und die finanziellen Aspekte so geregelt werden, dass die Betroffenen die von ihnen bestimmte Lebensqualität zu Hause in Würde leben können.