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Ruth Humbel und Thomas de Courten

Thomas de Courten, Ruth Humbel
Nachgefragt: Bedingen Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen Bürokratie?

Ruth Humbel, Alt-Nationalrätin (Die Mitte, AG)

Thomas de Courten, Nationalrat (SVP, BL)

14. Februar 2023

Pro

Regelmässig zeigen Studien ein enormes Einsparpotenzial im Gesundheitswesen auf. Aus dem Jahr 2012 stammt eine Studie im Auftrag der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften «Effizienz, Nutzung und Finanzierung des Gesundheitswesens», die allein in einer besseren Koordination der Leistungen ein Einsparpotenzial von drei Milliarden Franken ausmacht. Der Hausarzt macht Labor und Röntgen und der Spezialist wiederholt das Gleiche. Wer hat das nicht schon erlebt?

Gemäss Sonderabfallstatistik werden in der Schweiz jedes Jahr 4200 Tonnen Medikamente entsorgt. Darin nicht eingeschlossen sind Medikamente, die direkt im Abfall landen. Eine gewaltige Verschwendung von Prämiengeldern. Letzthin hat ein Mitarbeiter von Pro Senectute, der alleinstehende Pflegepatienten betreut, von einer Frau erzählt, die regelmässig wegen Stürzen hospitalisiert werden musste. Die Frau schluckt täglich 20 verschiedene Medikamente, von Ärzten verschrieben. Das mag ein krasser Fall sein. Ältere Menschen werden indes häufig übermedikalisiert. Rund 20’000 Spitalaufenthalte jährlich sind auf medikamentenbedingte Fehler zurückzuführen.

«Ein funktionierendes EPD würde die Qualität stärken und den bürokratischen Aufwand reduzieren.»

Ruth Humbel

Das ist eine Auswahl von offensichtlichen Qualitätsproblemen. Die Politik ist vor allem an der Indikations- und Ergebnisqualität interessiert. Schlussendlich geht es um den Therapieerfolg und dass möglichst schnell die richtige Diagnose gestellt ist. Dazu braucht es Transparenz und die Auswertung von Daten. Gemäss einer Studie von McKinsey und der ETH Zürich vom Herbst 2021 können mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen 10 Prozent Kosten eingespart werden.

Bei der Digitalisierung hinkt die Schweiz im internationalen Vergleich massiv hinterher. Zuwartende Akteure, veraltete regulatorische Vorgaben, sinnlose Datenschutzbestimmungen und föderale Strukturen verhindern die Schaffung eines effizienten, nutzenbringenden Datenökosystems. Die Digitalisierung bringt in allen Wirtschaftsbereichen administrative Entlastungen. Wieso soll dies im Gesundheitswesen nicht möglich sein?

Meines Erachtens würde ein funktionierendes EPD die Qualität stärken und den bürokratischen Aufwand reduzieren. Dazu braucht es neben einer sicheren Finanzierung eine gesamtschweizerisch einheitliche Infrastruktur, strukturierte Daten statt PDF-Dateien sowie die Aufhebung der doppelten Freiwilligkeit.

Mit Prämien und Steuern bezahlt die Bevölkerung jährlich über 50 Milliarden Franken an die Gesundheitsversorgung. Es liegt daher klar im öffentlichen Inte­resse, dass bezüglich Qualität und Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringer endlich Transparenz geschaffen wird.

Contra

Ärztinnen und Ärzte, aber ebenso medizinisches Fachpersonal und Pflegende verbringen immer mehr Zeit im Büro oder am Computer, um unzähligen bürokratischen Verpflichtungen nachzukommen, statt sich ihrer eigentlichen medizinischen und fachlichen Aufgabe sowie dem Dienst an den Patientinnen und Patienten zu widmen.

Selbst der Expertenbericht des Bundesrates zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen hält fest, dass die Leistungserbringer bis zu einem Drittel ihrer Arbeitszeit für administrative Aufgaben und Datenerfassungen aufwenden müssen. Sowohl im stationären wie auch zunehmend im ambulanten Bereich werden grosse Datenmengen erfasst, welche zum Teil nicht weiter ausgewertet werden oder schlicht nicht relevant sind. Der enorme Aufwand ist auch deshalb nicht gerechtfertigt, weil Nutzen und Kosten dieser Bürokratie weder abgewogen noch deren Relevanz überprüft wird.

«Es fehlen nationale Standards für die Strukturierung der Daten und den medienbruchfreien Austausch.»

Thomas de Courten

Die politischen Behörden bei Bund und Kantonen sollten deshalb prüfen, wie die Belastung durch bürokratische Regulierungen, Dokumentations- und Reportingpflichten, Statistik und Archivierung wirkungsvoll gebremst und wieder auf ein vernünftiges, verhältnismässiges und effizientes Mass zurückgeführt werden kann, ohne dass Behandlungsqualität und Patientensicherheit gefährdet werden.

Der Bundesrat bestätigt den Handlungsbedarf. Er verweist auf verschiedene Massnahmen und Projekte, die in die Wege geleitet worden sind. Er geht davon aus, dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen helfen könnte, die administrative Last zu senken oder die dafür nötige Arbeit zu vereinfachen. Ob dies zielführend oder zufriedenstellend sein wird, bleibt vorerst offen. Es sind weitere konkretere Massnahmen notwendig.

Das elektronische Patientendossier ist zwar mittlerweile verfügbar. Die damit verknüpfte Erwartung, dass Daten nicht mehrfach erhoben und gespeichert werden, ist aber bei Weitem noch nicht erfüllt. Eine breitere Verankerung des Once-Only-Prinzips bei den Gesundheitseinrichtungen ist angezeigt. Doch fehlen nationale Standards für die Strukturierung der Daten und für den medienbruchfreien Austausch. Die Leistungserbringer müssten ihre Praxis- und klinischen Informationssysteme mit automatisierten Schnittstellen ausrüsten. Softwarelösungen in den Praxen und Spitälern könnten helfen, die administrative Tätigkeit zu vereinfachen. Der Bund sieht hier allerdings keine eigene Zuständigkeit. Er verweist auf die Gesundheitseinrichtungen, die Tarifpartner oder weitere Akteure. Dieser gordische Knoten muss zerschlagen werden, um Effizienz, Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen zu verbessern.

Ruth Humbel

ist Juristin und war 19 Jahre Nationalrätin. Als Mitglied der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) hat sie verschiedene gesundheits- und sozialpolitische Vorlagen initiiert und mitgeprägt.

Thomas de Courten

ist Betriebsökonom und als Unternehmer sowie Verwaltungsrat tätig. Er sitzt seit 2011 für die SVP im Nationalrat und ist dort Mitglied der Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit sowie in der Geschäftsprüfungskommission.

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