Carlo Sommaruga und Peter Hegglin
Pro
Ja, auf jeden Fall. Dass es gesetzlich festgelegte Reserven in vertretbarer Höhe braucht, ist unbestritten. Die gegenwärtige Situation ist jedoch nicht nur unverhältnismässig, sondern auch unfair.
Notvorrat für schlechte Zeiten
Warum brauchen die Krankenversicherer Reserven? Und wie werden sie festgelegt?
In den vergangenen Jahren sind die Prämien markant gestiegen. Die Reserven der Krankenkassen auch. Es ist verständlich, dass es hin und wieder zu Unterschieden zwischen den auf Grundlage der Kostenschätzung ermittelten Prämienbeiträgen und den tatsächlichen Kosten zulasten der Grundversicherung kommen kann; die Kostenschätzung ist eine schwierige Aufgabe. Man darf aber nicht vergessen, dass diese Unterschiede dann Jahr um Jahr die Reserven aufstocken. Die systematische Wiederholung von Schätzungsfehlern ist inakzeptabel, da es sich bei den Reserven, von denen wir hier reden, um zu viel einbezahlte Prämien seitens der Versicherten handelt!
Das Ziel von Reserven ist, die Zahlungsfähigkeit und Stabilität eines Unternehmens zu gewährleisten und im Fall von plötzlich eintretenden, unvorhergesehenen Ereignissen, die mit erheblichen Zusatzkosten verbunden wären, die Leistungsdeckung zu garantieren. Die Reserven werden unter Berücksichtigung der von den Versicherern ermittelten Risiken veranschlagt. Sie werden folglich nicht mehr einfach prozentual zu den Prämieneinnahmen des Versicherers definiert und nach Anzahl Versicherter abgestuft. Dieser neue Berechnungsmodus ist seit 2012 in Kraft und gilt als genauer und restriktiver als die zuvor angewandte Methode.
«Der Bundesrat sieht einen freiwilligen Abbau der überschüssigen Reserven vor. Das reicht nicht.»
Carlo Sommaruga
Die Reserven haben inzwischen astronomische Höhen erreicht: Von 2015 bis 2021 stieg die Gesamtsumme von sechs auf zwölf Milliarden, das heisst mehr als 200 Prozent des gesetzlich geforderten Minimums! Die Krankenversicherungsprämien belasten die Schweizer Haushalte stark. Sie gelten sogar als zweithäufigste Ursache für eine Verschuldung. Deshalb ist es höchste Zeit, schnell Gegensteuer zu geben. Dieser Reservenaufbau läuft einer moderateren Prämienentwicklung zuwider.
Der Bundesrat hat das Problem erkannt, doch sein Lösungsvorschlag geht nicht weit genug: Er sieht nämlich einen freiwilligen Abbau der überschüssigen Reserven vor. Das reicht nicht. Häufen die Versicherer Reserven an, die über der gesetzlich vorgegebenen Solvenzquote von 100 Prozent liegen, sollen sie die überschüssigen Reserven zur Senkung der Versicherungsprämien einsetzen müssen.
Zudem darf der Reserveabbau nicht für Marketingzwecke erfolgen! Wir haben bereits mehrere Versicherer gesehen, die ihn ins Spiel bringen, um neue Versicherte anzuziehen.
Fazit: Eine Begrenzung der Reserven ist zwingend notwendig, 12 Milliarden an zu viel bezahlten Prämien müssen den Versicherten unverzüglich rückerstattet und die Prämien müssen künftig präziser berechnet werden. Für all diese Schritte braucht es Transparenz, die leider derzeit bei der Prämienberechnung fehlt!
Contra
Nach einer kurzen Verschnaufpause ziehen die Kosten im Gesundheitswesen wieder deutlich an. Im Jahr 2021 betrug das Wachstum pro versicherte Person 5,1 Prozent. Einen grossen Teil dieser Entwicklung werden die Prämienzahlerinnen und -zahler mitzutragen haben. Reserven bei den Versicherungen helfen, den Kostenschub abzubremsen.
Um die Stabilität der Krankenversicherer abzusichern, definiert das Bundesamt für Gesundheit alle potenziell eintretenden Risiken. Wenn ein Versicherer diese Risiken mit seinen Reserven abdecken kann, weist er eine Solvenzquote von 100 Prozent auf. In der bisherigen Betrachtung schien eine Solvenzquote von 150 Prozent als angemessen. Anstatt bei der Kostenentwicklung anzusetzen, ist in der Öffentlichkeit über die Höhe dieser Reserven ein Streit entbrannt. Kritiker werfen den Versicherungen vor, mit zu hohen Prämien zu hohe Reserven zu bilden. Doch ist dieser Vorwurf gerechtfertigt? Ich meine Nein. Ein Vergleich mit anderen Sozialversicherungen (AHV, IV, UV etc.) zeigt, die Krankenversicherer liegen im Mittelfeld. Die Reserven entsprechen im Durchschnitt lediglich einem Gesamtbetrag von ca. 3 bis 4 Monatsprämien. Eine Senkung der Solvenzquote wird also schnell verpuffen und nicht zu einer massgeblichen und anhaltenden Senkung der Prämienlast beitragen. Im Gegenteil wird sich – wie schon zweimal in der Vergangenheit – eine Senkung der Reserven rächen, indem die Prämien in der Folge sprunghaft erhöht werden müssen.
«Anstatt bei der Kostenentwicklung anzusetzen, ist über die Höhe der Reserven ein Streit entbrannt.»
Peter Hegglin
Zudem ist mit einer längerfristigen Schwächung der Kassen zu rechnen. Mit der Verordnungsänderung per Juni 2021 hat der Bundesrat die Reservevorgaben gelockert und auf künftig noch 100 Prozent gesenkt. Der Bundesrat nimmt damit wirtschaftlich und gesellschaftlich unerwünschte Jo-Jo-Effekte in Kauf. Bei einem Fall unter 100 Prozent werden die Kassen von den Aufsichtsbehörden zu unterjährigen Massnahmen gezwungen, in der Öffentlichkeit diskreditiert und in Einzelfällen in eine Existenzkrise gestürzt. Er setzt eine Risikospirale in Gang. Wer noch mehr Risiken in Kauf nimmt, kann tiefere Prämien anbieten. Gleichzeitig verkennt der Bundesrat die positive Wirkung und die beruhigenden Zeichen, welche die Krankenversicherer dank der Reserven in Krisenzeiten wie der Covid-Pandemie setzen konnten, indem sie frühzeitig bekannt gaben, auf pandemiebedingte Prämienaufschläge zu verzichten. Dank der Reserven!
Ich habe es mit dem alten Sprichwort «Spare in der Zeit, so hast du in der Not».