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«Konzertierter Druck kann etwas bewirken»

Patrick Rohr, Nora Bienz, Thomas Zeltner
In der Analyse sind sich die Intensivmedizinerin und VSAO- Vizepräsidentin Nora Bienz und der ehemalige BAG-Chef Thomas Zeltner einig: Der bürokratische Aufwand in der Medizin ist zu gross. Zur Bewältigung machen sie unterschiedliche und auch überraschende Vorschläge.

Nora Bienz, Vizepräsidentin des VSAO Schweiz

Thomas Zeltner, Jurist und Mediziner, ehemaliger Direktor des Bundesamts für Gesundheit (BAG)

Patrick Rohr, Journalist und Moderator

14. Februar 2023

Frau Bienz, Sie arbeiten in einem grossen Spital. Wie viel Zeit verbringt ein Arzt, eine Ärztin am Patientenbett, wie viel Zeit mit dem Ausfüllen von Rapporten und Ähnlichem?
Nora Bienz: Spitzenreiter sind die Internisten. Die sind an einem Zehn-Stunden-Arbeitstag in der Regel etwa zwei Stunden bei den Patientinnen und Patienten, vielleicht am Nachmittag noch mal eine Stunde bei den Neueintritten. Bei uns auf der Intensivstation ist es etwas mehr. In der restlichen Zeit macht man administrative Arbeiten.

Waren Sie sich dessen bewusst, als Sie sich entschieden haben, Ärztin zu werden?
Nora Bienz: Nein, das realisiert man erst nach und nach. Und dann ist es für viele ein Schock.

Herr Zeltner, Sie haben auch Medizin studiert. War die Bürokratie der Grund, weshalb Sie keine Spitalkarriere gemacht haben, sondern in der Verwaltung gelandet sind?
Thomas Zeltner: Nein, das war nicht der Grund. Ich habe ganz zu Beginn als Vertretung in einer Arztpraxis gearbeitet. Das war in der guten alten Zeit. Es gab damals nur wenige administrative Arbeiten und die erledigten bei uns in der Praxis zwei Krankenschwestern. Ich konnte mich um die Patienten kümmern. Später war ich ein Jahr in der klinischen Chirurgie und auch da war es deutlich weniger als heute.

Wieso ist es heute so viel mehr?
Thomas Zeltner: Früher war die Medizin zwar ineffizienter, aber simpel und sicher. Heute ist sie effizienter, aber auch komplexer und mit vielen potenziellen Gefahren verbunden. Ein Spital ist ein Hochrisikobetrieb. Hier muss man alles doppelt kontrollieren wie in einem Flugzeug.

Dann ist die grosse Bürokratie der Preis für den medizinischen Fortschritt?
Nora Bienz: Zu einem Teil sicher. Wir machen halt auch Absicherungsmedizin. Als Arzt oder Ärztin will man nicht für einen Fehler haften müssen. Heute müssen wir alles begründen, auch das, was wir nicht tun.

Foto: Fabian Hugo

«Zuerst schicke ich ein Fax und dann rufe ich an, um zu sagen, dass ich ein Fax geschickt habe.»

Nora Bienz

Herr Zeltner hat beschrieben, wie ihm früher Pflegefachfrauen einen grossen Teil der Administration abgenommen haben. Delegieren müsste doch auch heute möglich sein?
Nora Bienz: Tatsächlich gibt es viele Dinge, die man delegieren könnte. Aber Delegieren bedeutet auch Aufwand. Und es gehen möglicherweise Informationen verloren.

Was Sie beide beschreiben, erinnert mich an den Frosch, der im immer heisseren Wasser zu spät merkt, dass er verbrüht. Als ehemaliger und langjähriger BAG-Chef sind Sie, Herr Zeltner, mitschuldig, dass das Wasser immer heisser wird.
Thomas Zeltner: (überlegt lange) Das sehe ich nicht so. Was in den Spitälern geschieht, ist die Verantwortung der Spitalleitungen. Möglicherweise hat man die Entwicklung in den Spitälern noch nicht wahrgenommen. Aber es wäre höchste Zeit, es zu tun. Vielleicht braucht es eine neue Berufsgattung, die die administrativen Arbeiten übernimmt. Es ist nicht günstiger, sie durch die Assistentinnen und Assistenten erledigen zu lassen, dafür haben die nicht sieben Jahre studiert.

Frau Bienz, vielleicht müssten Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen Druck ausüben, damit sich etwas ändert?
Nora Bienz: Das tun wir bereits. Aber das Problem ist, dass viele Ärztinnen und Ärzte ihre Arbeitszeit nicht oder nicht korrekt erfassen, weil es sonst Puff gibt mit dem Chef …

… weil sie zu lange arbeiten?
Nora Bienz: Ja. Und so werden viele Arbeitsstunden geleistet, die nirgends erscheinen. Das ist natürlich praktisch und für das Spital ein grosser Vorteil. Denn so sind die Assistentinnen und Assistenten für das, was sie leisten, verhältnismässig günstige Arbeitskräfte.

Und sie wehren sich nicht, weil sie zuunterst in der Hierarchie stehen?
Thomas Zeltner: Ja, und das ist verständlich. Aber wir erleben immer wieder, dass Veränderungen bottom-up geschehen. Als wir in meiner Zeit als BAG-Chef die Labortarife geändert hatten, gingen die Hausärzte dagegen auf die Strasse. In der Folge haben wir den Entscheid wieder korrigiert. Konzertierter Druck kann auf jeden Fall etwas bewirken.

Der ehemalige BAG-Chef ruft zum zivilen Ungehorsam auf?
Thomas Zeltner: So weit will ich nicht gehen. Aber die Assistentinnen und Assistenten haben klare Arbeitsbestimmungen. Dass man diese nicht durchsetzt, bedeutet, dass man die Leute ausnützt. Hier wären die Kantone in der Aufsichtspflicht.
Nora Bienz: Wir sind jetzt gerade dabei, mittels einer Umfrage herauszufinden, ob und wie die Arbeitszeiten erfasst werden. Wir wollen wissen, ob vorausgesetzt wird, dass die Assistenzärztinnen und -ärzte so lange arbeiten, bis alles erledigt ist, oder ob auch erfasst wird, wenn jemand länger arbeitet.
Thomas Zeltner: Es ist nicht nur für die Work-Life-Balance der Assistenzärztinnen und -ärzte schlecht, wenn sie 80 Stunden die Woche arbeiten. Es ist auch eine Sicherheitsfrage: Menschen, die übermüdet sind, machen Fehler.
Nora Bienz: Spannend, dass Sie als ehemaliger BAG-Chef das sagen. Seit Kurzem ist das neue Qualitätsgesetz in Kraft und in diesem Gesetz steht kein Wort zu den Arbeitsbedingungen der Assistenzärztinnen und -ärzte.

Obwohl das ein wichtiges Qualitätskriterium wäre?
Nora Bienz: Genau. Der VSAO hat das in der Vernehmlassung eingebracht, aber es interessierte offenbar niemanden. Man will die Qualität steigern, aber genau hinschauen, ob die betreffenden Menschen die geforderte Qualität überhaupt leisten können, will niemand. Mich schockiert das.
Thomas Zeltner: Ich bin auch der Meinung, dass man das nochmal anschauen muss.

Foto: Fabian Hugo

«Schrittchen reichen jetzt nicht mehr, es braucht einen Sprung.»

Thomas Zeltner

Und wer ist «man», der das anschauen muss?
Thomas Zeltner: Zuständig für die Gesundheitsversorgung sind die Kantone.

Werden eigentlich die modernen Technologien genügend genutzt, um die Bürokratie zu reduzieren?
Nora Bienz: Das Problem ist: Jedes Spital hat ein eigenes IT-System und pröbelt ein bisschen vor sich hin. Im Inselspital in Bern bekommen wir jetzt dann immerhin endlich ein System, an das alle Kliniken angehängt sind.

Das gab es bis jetzt nicht?
Nora Bienz: Nein, der Notfall arbeitet mit einem anderen System als wir auf der Intensivstation und die anderen Kliniken arbeiten noch einmal mit einem anderen System. Deshalb ist manchmal nur schon die Datenübertragung innerhalb des Spitals eine Herausforderung.

Wie läuft sie in der Regel ab?
Nora Bienz: Wenn die Kolleginnen und Kollegen im Notfall einen Patienten aufnehmen, erstellen sie im System einen Bericht. Der wird ausgedruckt und zu mir auf die Intensivstation gebracht.

Im Ernst? Stehen im Inselspital auch noch Faxe?
Nora Bienz: Selbstverständlich.

Und wofür braucht man die?
Nora Bienz: Zum Beispiel für Röntgenanmeldungen. Zuerst schicke ich ein Fax auf die Abteilung und dann rufe ich an, um zu sagen, dass ich ein Fax geschickt habe.

Damit die Kolleginnen das Dokument überhaupt sehen?
Nora Bienz: Genau. Und dann scannen sie das Dokument ein. Der VSAO ist dabei, die Abläufe zu optimieren, aber die Bereitschaft dafür ist bei den Spitälern nicht sehr gross.

Herr Zeltner, Sie waren bis 2009 Direktor des Bundesamts für Gesundheit BAG. Damals war die Digitalisierung schon in vollem Gange. Hat das BAG unter Ihnen die Entwicklung ver­schlafen?
Thomas Zeltner: Für die Digitalisierung braucht es Partnerschaften. Dass bis heute noch Faxe eingesetzt werden, liegt an der praktizierenden Ärzteschaft. In zahlreichen Arztpraxen gibt es bis heute keinen Computer.

Wir befinden uns im Jahr 2023 …
Thomas Zeltner: Genau.

Interview: Patrick Rohr; Foto: Fabian Hugo

Warum wollen Ärztinnen und Ärzte lieber ein Fax als ein Mail verschicken?
Nora Bienz: Ich machte Ende der Nullerjahre bei einem Hausarzt mein Block-Praktikum. Dieser Arzt führte für jeden Patienten handschriftlich eine Karteikarte nach. Er war damals wohl um die 50 und er sagte sich: Warum Tausende Franken in ein IT-System investieren, wenn es für ihn funktioniert? Ich kann das ein Stück weit nachvollziehen.

Sind Geräte zur Spracherkennung in der Ärzteschaft ein Thema? Dann würde immerhin das Berichteschreiben wegfallen.
Nora Bienz: Absolut, in einigen Kliniken gibt es sie schon. Aber diese Systeme sind nicht ganz billig und sie müssen für jede Stimme trainiert werden. Wenn auf einer Abteilung, wie zum Beispiel auf der Inneren Medizin im Inselspital, 70 Assistenzärztinnen und -ärzte arbeiten und es da auch noch relativ viele Wechsel gibt, dann ist das ein sehr gros­ser Aufwand.

Aber es wäre eine massive Erleichterung?
Nora Bienz: Ja, aber nicht am Anfang. In der ersten Phase bedeutet jedes neue System Mehraufwand.

Frau Bienz, Sie überraschen mich. Sie sehen zwar die Probleme, haben aber immer auch Verständnis, dass es nicht anders geht.
Nora Bienz: Ich kann nachvollziehen, was die Überlegungen sind. Dass wir trotzdem nichts ändern, ist für mich unbegreiflich. Wenn wir so weitermachen, sind wir in 20 Jahren noch an diesem Punkt. Wir müssen etwas ändern, ganz klar.
Thomas Zeltner: Es ist interessant: In der Klassifizierung der Gesundheitssysteme gehören wir in der Schweiz immer zu den drei Besten, zusammen mit Dänemark und den Niederlanden. Und zwar auch gemessen an der Patientenzufriedenheit. Das ist das Problem: Die Leute sind ausserordentlich zufrieden mit dem System.

Deshalb fehlt auch der Druck, um etwas zu ändern?
Thomas Zeltner: Genau. Und darum muss man zwei Dinge tun: genau anschauen, wer was macht. Und dann die Möglichkeiten, die die künstliche Intelligenz bietet, nutzen. Das geht nicht anders als in Pilotversuchen.

Muss der Druck dafür von oben kommen?
Thomas Zeltner: Meine Erfahrung ist, dass es am Schluss ein paar Leute braucht, die wirklich etwas verändern wollen. Nehmen wir als Beispiel das Paraplegikerzentrum in Nottwil. Das ist das Werk von einer Person, die gesagt hat: Ich will in der Schweiz ein Rehabilitationssystem aufbauen, das Weltspitze ist.

Wann wird das letzte Fax im Spital stehen?
Thomas Zeltner: (überlegt lange) 2030?
Nora Bienz: Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in sieben Jahren kein Fax mehr haben. In der Insel vielleicht, weil wir jetzt ein neues System bekommen, aber insgesamt denke ich, dass es erst 2040 keine Faxe mehr gibt.
Thomas Zeltner: (lacht) Ich wollte eigentlich auch 2040 sagen, dachte aber, dass ich mit der optimistischeren Prognose etwas Druck machen kann.

Wäre das elektronische Patientendossier ausgereifter, wären viele der Probleme, die wir besprochen haben, gelöst.
Nora Bienz: Das EPD ist nicht strukturiert aufgebaut. Eine PDF-Sammlung bringt einem Arzt nichts. Wenn das EPD wirklich funktionieren soll, braucht es eine logische Struktur mit Such- und Filterfunktionen.
Thomas Zeltner: Wenn uns die Pandemie etwas gelehrt hat, dann ist es, dass wir unbedingt in digitale Technologien investieren müssen. Schrittchen reichen jetzt nicht mehr, es braucht einen Sprung. Manchmal ärgert es mich, dass ich nicht mehr sagen kann: «Macht endlich vorwärts!» (lacht)

Nora Bienz

ist seit August 2021 Oberärztin an der Universitätsklinik für Intensivmedizin am Inselspital in Bern, wo sie seit 2019 tätig ist. Seit 2015 präsidiert sie die Sektion Bern des Verbands der Schweizerischen Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO), seit 2020 ist sie Vizepräsidentin des VSAO Schweiz.

Thomas Zeltner

ist Jurist und Mediziner, ein international anerkannter Experte für Fragen der öffentlichen Gesundheit und von Gesundheitssystemen. Von 1991 bis 2009 war er Direktor des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Zeltner ist Gründer und Vorsitzender der WHO Foundation und Präsident der Schweizer Unesco-Kommission.

Patrick Rohr

ist Journalist, Moderator, Fotograf und Kommunikationsberater mit eigener Firma in Zürich. Bis 2007 arbeitete er für das Schweizer Fernsehen, unter anderem als Redaktor und Moderator der Sendungen Schweiz aktuell, Arena und Quer.

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