Komplexes Zusammenspiel
Die Zahl der Beschäftigten im Schweizer Gesundheitswesen hat sich, in Vollzeitstellen gemessen, in den letzten 30 Jahren verdoppelt. Damit ist die Schweiz im Vergleich mit anderen OECD-Ländern gut mit Gesundheitspersonal ausgestattet. Und doch herrscht heute ein grosser Mangel an Ärztinnen und Ärzten, spezialisierten Pflegenden und anderen Fachkräften. Dieser Mangel wird sich in den kommenden Jahren wohl noch verstärken.
Der Fachkräftemangel gefährdet das System
Im Gesundheitswesen wird vor allem über Finanzen diskutiert. Aber in Zukunft wird der Mensch die knappste Ressource sein.
Systemsicht: Haben wir mittel- und langfristig genügend gut qualifizierte Arbeitskräfte für unser Gesundheitswesen?
Viele Institutionen haben Mühe, neues Personal zu rekrutieren, während gleichzeitig immer mehr Fachkräfte aus dem Beruf austreten. Einige Fachrichtungen – z. B. die Grundversorgung und die Psychiatrie – und ländliche Gebiete sind besonders betroffen. Bei den Pflegenden mangelt es vor allem an diplomierten Pflegefachpersonen mit Bachelor- oder Masterabschluss und Pflege-Expertinnen und -Experten mit Zusatzausbildungen. Und inzwischen fehlt auch anderes qualifiziertes Gesundheitspersonal wie Hebammen und MPA.
Dieser Mangel hat verschiedene Ursachen:
- Die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen steigt angesichts der wachsenden und alternden Bevölkerung.
- Das höher qualifizierte Gesundheitspersonal kam bisher oft aus Nachbarländern. Diese Länder haben ebenfalls einen akuten Personalmangel und versuchen, die Abwanderung ihrer qualifizierten Ärztinnen und Pflegenden zu verhindern. Es wird also immer schwieriger, das fehlende Personal zu «importieren».
- Die hohe Arbeitsbelastung durch knappe Personalbestände, Schichtarbeit und administrative Aufgaben führt zu einer hohen Zahl an Berufsaussteigenden.
- Der Mangel wird sich weiter verschärfen, da es in allen Branchen an qualifiziertem Personal fehlt. Die Betriebe ausserhalb des Gesundheitswesens sind dabei in einer besseren Lage, um neues Personal zu gewinnen, da sie zusätzliche Lohnkosten eher an ihre Kunden weitergeben können.
«Andere Branchen können zusätzliche Lohnkosten für neues Personal eher an ihre Kunden weitergeben.»
Prof. Dr. Simon Wieser, PD Dr. Florian Liberatore und Matthias Maurer
Bei der Ärzteschaft kommen noch spezifische Gründe dazu:
- Viele der heutigen Ärztinnen und Ärzte gehören zur Babyboomer-Generation, die gerade in Pension geht oder dies in den nächsten Jahren tun wird.
- Die Einkommen der selbstständigen Ärzte unterscheiden sich stark zwischen den Fachrichtungen. Jene mit einem niedrigeren Einkommen, wie Grundversorger und Psychiater, sind deutlich stärker vom Ärztemangel betroffen.
- Die Zahl der an Schweizer Universitäten ausgebildeten Ärzte reicht nicht aus, um den Bedarf der wachsenden und alternden Bevölkerung zu decken. Zwar wurde die Zahl der jährlichen Zulassungen zum Medizinstudium kürzlich von 900 auf 1350 erhöht, aber es wird Jahre dauern, bis die Studierenden zu Ärzten werden. Und es ist unsicher, ob diese Erhöhung der Studienplätze ausreicht.
- Neue Ärztinnen und Ärzte wollen heute oft lieber als Angestellte mit weniger Wochenstunden arbeiten. Deshalb sind mehr Ärzte nötig, um die gleiche Anzahl von Patienten zu behandeln.
Unsere Vorschläge auf der Ebene des Gesundheitssystems:
- Die weitere Erhöhung der Medizin-Studienplätze. Die heutige Zahl ist zu niedrig angesichts des zunehmenden medizinischen Bedarfs der Bevölkerung und den berechtigten Vorstellungen der neuen Ärztegeneration zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Ausserdem gibt es keinen Mangel an Bewerbenden, da weniger als eine/einer von vier zum Medizinstudium zugelassen wird.
- Die Förderung einer früheren Spezialisierung im Medizinstudium, um die Effizienz der medizinischen Ausbildung zu erhöhen und die Rolle der Grundversorger zu stärken.
- Die Vorbereitung des Gesundheitswesens auf einen anhaltenden und noch deutlich grösseren Mangel an qualifiziertem Gesundheitspersonal. Dies ist notwendig, da der Erfolg der Anstrengungen zur Verringerung des Personalmangels begrenzt sein könnte. Auch in Zeiten von anhaltendem Personalmangel sollten aber alle einen sicheren Zugang zu grundlegenden medizinischen Leistungen haben. Der Zugang zu nicht zwingend notwendigen oder gar überflüssigen Leistungen muss dann eingeschränkt werden. Bei dieser schwierigen gesamtgesellschaftlichen Prioritätensetzung sind diejenigen Leistungen zu bevorzugen, die einen nachgewiesenen Nutzen bei den Patienten erbringen. Der national gültige Leistungskatalog in der Grundversicherung müsste diese Prioritätensetzung abbilden (z.B. orthopädische Operation versus gleich wirksame konservative Behandlung mit Physiotherapie).
Sieben Bereiche sind entscheidend für Nachhaltigkeit und Resilienz
In ihrem Bericht «Partnership for Global Health Resilience and Sustainability (PHSSR)» identifizieren die Autoren sieben Bereiche als entscheidend für die Nachhaltigkeit und die Resilienz des Schweizer Gesundheitssystems aus Systemsicht.
Organisationssicht: Wie können wir die Arbeitskräfte halten und richtig einsetzen?
Neben demografischen, regulatorischen und gesundheitspolitischen Ursachen des Fachkräftemangels ist dieser auch zum Teil auf Versäumnisse im Management der Institutionen zurückzuführen. Dies betrifft die Arbeitsbedingungen für Gesundheitsfachpersonen, die Allokation von Personalressourcen und die effiziente Nutzung der Personalressourcen:
- Lange hat es das Management verschlafen, attraktive Arbeitsbedingungen zu schaffen. Man konnte auf den unermüdlichen Einsatz der Gesundheitsfachpersonen zählen. Attraktive Arbeitsbedingungen und -modelle sind jedoch heute äusserst wichtig, um Personal zu rekrutieren und zu halten. Nicht nur der Lohn zählt, sondern auch die Zusammenarbeit im Team, die Führungskultur, die angemessene Personalausstattung, die Mitbestimmung bei Schichtplänen sowie flexible (Teilzeit-)Arbeitsmodelle, Karriereoptionen und genug Zeit für eine qualitativ gute Behandlung. Auch wenn einige dieser Massnahmen unter den gegenwärtigen Tarifbedingungen finanziell schwer zu stemmen sind, sind andere ohne finanzielle Mehrbelastung durch Umstellungen in der Kultur, den Entscheidungsprozessen und der Ressourcenplanung/-steuerung umsetzbar.
- In vielen Institutionen findet gerade ein Umdenken statt. Ziel ist trotz knapper Personalressourcen, keine Betten zu schliessen oder Behandlungsleistungen kürzen zu müssen. Voraussetzungen dafür sind eine zentrale Ressourcenplanung mittels Kapazitätsmanagementsystemen, eine abteilungs-/institutionenübergreifende flexible Ressourcenteilung und -nutzung über Personalpools, bedarfsgerechte Schichtbesetzungen sowie Skill-Grade-Mix-Optimierungen.
- Zentral sind auch alle Massnahmen, welche die Effizienz von Personalressourcen erhöhen. Dabei geht es nicht um eine Arbeitsverdichtung, sondern um die Standardisierung und Optimierung der Arbeitsabläufe und die Reduktion bzw. Konsolidierung des administrativen Aufwands.
Insgesamt könnten durch geeignete Managementmassnahmen Berufsaustritte vermieden und die knappen Ressourcen an Fachkräften bedarfsgerecht und effizient genutzt werden, was den Fachkräftemangel erheblich reduzieren würde.