«Die Personalnot wird aufgrund von Einzelfällen überdramatisiert»
Die aktuellen Schlagzeilen in den Zeitungen klingen dramatisch: «Ambulanzstopp im Notfall-Zentrum», «Pflegeheim schliesst ganze Abteilung», «Spitäler verschieben Operationen» – wie dramatisch ist es im Kanton Graubünden, Herr Regierungsrat?
Peter Peyer: Dramatisch ist es nicht, aber klar ist: Zu viel Personal hat in unseren Institutionen niemand. Graubünden ist ein grosser Kanton, die Lage zeigt sich unterschiedlich. In den Grenzregionen ist die Situation dank den Mitarbeitenden aus Italien besser, anderswo wurden in Spitälern auch Stationen geschlossen oder Aufnahmestopps in Alters- und Pflegeheimen verordnet. Auch die Spitex musste ihr Angebot einschränken. Pflegebedürftige werden beispielsweise nicht mehr dreimal, sondern nur noch zweimal pro Woche gewaschen.
Der Fachkräftemangel gefährdet das System
Im Gesundheitswesen wird vor allem über Finanzen diskutiert. Aber in Zukunft wird der Mensch die knappste Ressource sein.
Sie, Herr Widmer, waren viele Jahre Direktor in verschiedenen Spitälern, was beobachten Sie im Moment?
Werner Widmer: In meinen Augen verbreiten die Medien ein falsches Bild und geben der Öffentlichkeit das Gefühl, die Spitäler seien am Ende. Laut Statistik war die Zahl der Pflegenden und der Ärztinnen und Ärzte pro Patienten im stationären Bereich aber noch nie so hoch. Da wird aufgrund von Einzelfällen, die es natürlich ernst zu nehmen gilt, massiv übertrieben.
Aber viele Spitäler und Pflegeheime schlagen Alarm. Laut Studien sind heute 13 500 Stellen in der Gesundheitsbranche nicht besetzt, pro Monat steigen 300 Pflegende aus. Kann man da wirklich von Einzelfällen sprechen?
Werner Widmer: Auch da wird überdramatisiert. Wenn 300 Leute pro Monat aussteigen, entspricht das 3600 im Jahr. Bei 71 000 Vollzeitstellen in der Pflege in den Spitälern wären das 5 Prozent und eine Verweildauer im Beruf von 20 Jahren. Eine hervorragende Bilanz. Schädlich ist, dass der Berufsverband der Pflegenden und auch die SP den Pflegeberuf im Abstimmungskampf zur Pflegeinitiative permanent schlechtgeredet haben. Kein Wunder, ziehen diese Berufe junge Menschen nicht mehr an.
Peter Peyer: Das sehe ich ganz anders. Die Pflegeinitiative wertet das Berufsbild auf und macht den Beruf attraktiver, das ist ein ehrenwerter Gedanke. Aber in einem gebe ich Ihnen recht, Herr Widmer, es gilt, eine Negativspirale des Jammerns zu vermeiden, weder zu dramatisieren noch zu banalisieren. Sicher müssen die Institutionen ihre Kultur überdenken, ihre Anstellungsbedingungen, ihr Führungsverständnis, die Mitsprachemöglichkeiten der Mitarbeitenden. Wichtig ist zum Beispiel die Diensteinteilung, das höre ich im Übrigen auch von den Polizisten in meinem Departement. Eine unattraktive Dienstplanung macht vieles kaputt, da gibt es grosses Verbesserungspotenzial.
Werner Widmer: Das sehe ich auch so. Viele Probleme sind hausgemacht, spitalintern. Ich habe kürzlich eine Masterarbeit betreut, die untersuchte, warum Pflegende auf der Intensivstation bleiben. Die Dienstplanung war ein wichtiger Punkt, man will mitreden als Subjekt und nicht verplant werden als Objekt. Die Spitäler müssen alles daransetzen, dass sie die Leute halten können. Das hat viel mit Kultur zu tun.
«Die Institutionen müssen ihre Kultur überdenken: ihr Führungsverständnis, die Mitsprachemöglichkeiten.»
Peter Peyer
Ist es in der momentanen Situation angebracht, dass viele Kantone Milliarden für neue Spitalbauten vorsehen? Verstärkt das nicht die Personalnot?
Werner Widmer: Ja, Spitäler schaffen bei den Ärzten und den Pflegenden Jahr für Jahr mehr Stellen. Spitalverantwortliche haben das Gefühl, ihr Betrieb müsse immer weiterwachsen. Nach dem Motto Wachsen ist gut, Stagnation ist der Untergang. Dieses pseudo-wirtschaftliche Denken ist falsch. Das Ziel darf nicht Wachstum sein. Die verbesserte Gesundheit der Bevölkerung muss im Mittelpunkt stehen.
Peter Peyer: Das sehe ich differenzierter. Die Schweizer Bevölkerung wächst, da muss das Gesundheitswesen mitwachsen. Auch bei uns in Graubünden gibt es viele Bauprojekte, trotzdem steigt die Bettenzahl nicht an. Es geht um Qualität. Natürlich kann man über Einzelbett- statt Doppelbett- oder Vierbettzimmer diskutieren. Aber das hängt zusammen mit den immer höher werdenden Ansprüchen von uns allen.
Werner Widmer: Nichts gegen Einzelzimmer, die gehören heute zum Standard. Sie benötigen nicht mehr Personal und verkürzen die Aufenthaltsdauer im Spital, weil man beispielsweise besser schläft. Aber noch einmal: Wir sollten im stationären Bereich nicht mehr Betten bauen und mehr Stellen schaffen, sondern vermehrt auf ambulante Behandlungen setzen. In bestimmten Fällen ist «Hospital at home» eine gute Alternative zum Spitalaufenthalt.
Ob wir wollen oder nicht: Das Gesundheitswesen muss in Zukunft mit weniger Personal auskommen. Wie gehen wir mit dieser Situation um?
Peter Peyer: Wir werden eine Durststrecke erleben und aufgrund der Demografie wird der Kampf um Fachkräfte noch härter werden. Das Personal muss also dort eingesetzt werden, wo es wirklich nötig ist. Ich erwähne ein Beispiel: Auf den Notfallstationen nimmt die Zahl der Bagatellfälle massiv zu. Ich weiss von jemandem, der sich mit einem Blatt Papier in den Finger geschnitten und den Notfall aufgesucht hat. Da ist bei der Gesundheitskompetenz der Menschen anzusetzen, damit das Personal nicht mit Unnötigem belastet wird.
Werner Widmer: Ein anderes Beispiel: Seit der Corona-Pandemie hat der Erstkontakt bei Hausärztinnen und Hausärzten von jungen Leuten im Alter von 25 bis 45 Jahren stark zugenommen. Sie haben schnell das Gefühl, krank zu sein, obwohl ihnen nichts fehlt.
Das bindet natürlich Ressourcen …
Werner Widmer: Genau. Zusätzlich möchte ich unbedingt die Zunahme der administrativen Aufgaben ansprechen. Eine Assistenzärztin der Inneren Medizin erzählte mir kürzlich ihren Tagesablauf. Nur am Morgen sei sie bei den Patienten, am Nachmittag erledige sie ausschliesslich Büroarbeit. Dass die Kantone und die Kassen immer mehr Dokumentationen verlangen, ist für mich Ausdruck des Misstrauens gegenüber den Spitälern. Weshalb macht man stattdessen nicht Stichproben und bestraft bei bewussten Regelverstössen die schwarzen Schafe mit saftigen Bussen? Das Personal wäre entlastet und hätte viel mehr Zeit, sich mit dem Wesentlichen, der Gesundheit der Patientinnen und Patienten, zu befassen.
Peter Peyer: Ob es die Kantone oder die Versicherer sind, die diese Bürokratie schaffen, lasse ich offen. Sicher geht es hier um unsere Mentalität, wir wollen überall hundertprozentige Sicherheit haben. Warum wird ein Medikament, das in Europa schon zugelassen ist, in der Schweiz noch einmal geprüft? Warum untersucht mich mein Hausarzt, macht Blutanalysen und Röntgenaufnahmen, schickt mich dann ins Spital und dort werden die gleichen Untersuchungen noch einmal gemacht? Das sind bloss zwei von vielen Doppelspurigkeiten im System, die Ressourcen binden.
«Wir sollten im stationären Bereich nicht mehr Betten bauen, sondern auf ambulante Behandlungen setzen.»
Werner Widmer
Müsste man nicht auch unpopuläre Massnahmen ins Auge fassen und zum Beispiel kleine Spitäler mit grossen zusammenlegen, wenn zu wenig Personal da ist?
Peter Peyer: Das funktioniert vielleicht im Kanton Zug oder im Kanton Zürich, bei uns in Graubünden aber nicht. Aufgrund unserer Geografie und Topografie sind wir auf kleine Spitäler, welche die Grundversorgung garantieren, angewiesen. Zudem zeigen Studien, dass die Menschen am liebsten dort arbeiten, wo sie auch wohnen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Pflegefachfrau aus dem Münstertal nach Scuol pendelt. Sie steigt einfach aus der Branche aus und verschärft die Personalnot.
Werner Widmer: Da bin ich gleicher Meinung. Das Personalproblem wird so nicht gelöst, weil die Patientenzahl gleich hoch bleibt. Ich wäre einzig dafür, dass ein schlechtes Spital politisch nicht gestützt wird, sondern dass man es eingehen lässt, mangels Patienten und mangels Personal.
Peter Peyer: Unser Lösungsansatz ist, dass wir Gesundheitsversorgungs-Regionen organisieren und dort das Personal flexibel einsetzen können. Wenn die Spitex oder das Altersheim Personalengpässe haben, hilft man sich gegenseitig aus, weil die Wege kurz und die Kontakte eng sind.
Werner Widmer: Theoretisch sind solche Versorgungsnetze gut. Meine Erfahrung ist allerdings, dass nur wenige bereit sind, heute im Spital und morgen bei der Spitex zu arbeiten. «Ich und mein Team», das ist vielen Mitarbeitenden sehr wichtig.
Peter Peyer: Das muss sich zwangsläufig ändern, weil der Druck zunimmt. Wir können nicht mehr sagen, das machen wir nicht, weil wir es noch nie gemacht haben. Es braucht sowohl die Offenheit des Personals als auch die Offenheit der Gesellschaft. Vielleicht müssen in Zukunft auch bei uns Familienangehörige gewisse Betreuungsleistungen übernehmen, so wie in Italien.
Herr Widmer, haben Sie noch andere Ideen, wo man ansetzen müsste, wenn das Personal knapp ist?
Werner Widmer: Ja, wir müssen bei den Bagatellfällen ansetzen. Die Patienten müssen mehr Verantwortung übernehmen und selbst mehr bezahlen. Deshalb würde ich die Franchise einkommensabhängig gestalten. Die Gutsituierten bezahlen mehr selbst, wenn sie Gesundheitsleistungen beanspruchen. Wer kein Geld hat, bezahlt weiterhin nichts. So würde man sich einen Arztbesuch oder eine Nice-to-have-Behandlung eher überlegen, die Prämien würden sinken, weil insgesamt mehr selbst bezahlt wird, und es wäre sozial.
Peter Peyer: Einen einkommensabhängigen Selbstbehalt unterschreibe ich sofort. Es gibt auch den Vorschlag, dass man eine Gebühr bezahlen muss, wenn man den Spitalnotfall aufsucht. Das ist eine schwierige Diskussion. Was ist, wenn jemand die Gebühr nicht bezahlen kann oder will und deswegen zu spät ärztliche Hilfe bekommt? Dann wird es unter Umständen viel teurer.
Zum Schluss möchte ich noch ein heikles Thema ansprechen: die Rationierung. Wir kennen die Triage aus der Corona-Zeit, als entschieden wurde, wer ein Beatmungsgerät oder ein Bett auf der Intensivstation bekommt. Müssen wir wegen des Personalmangels offen über Rationierungen sprechen?
Werner Widmer: Rationierung ist eine weitere Drohung. In der Schweiz haben wir pro Kopf das teuerste Gesundheitswesen in Europa. Wenn wir nun glauben, wir sollten hier über Rationierung sprechen, müssten in Ländern wie Deutschland oder Frankreich, wo es viel weniger Ärzte und Pflegepersonal gibt, die Patienten schon längst in den Strassen liegen.
Peter Peyer: Niemand in der Schweiz will eine Rationierung, am wenigsten das Personal. Aber ich will noch einmal die Gesundheitskompetenz ansprechen. Heute sagen wir: Ich zahle so hohe Krankenkassenprämien, also will ich alles, egal wie teuer, egal wie sinnvoll es ist und egal wie alt ich bin. Damit stösst unser System an Grenzen. Wir alle sollten vielmehr darüber nachdenken, welche Eingriffe wirklich zu mehr Lebensqualität führen. Wir sollten auch viel mehr darüber nachdenken, wie wir es schaffen, gesund zu bleiben. Da nehme ich auch die Kassen in die Pflicht. Gesunde Menschen belasten das Gesundheitswesen am wenigsten.