Das Potenzial ambulanter Pauschalen
Patrick Rohr: Herr Zängerle, Sie sind ein verhaltener Befürworter von ambulanten Pauschalen, um nicht zu sagen: ein Gegner. Warum?
Pius Zängerle: Ich bin kein Gegner von ambulanten Pauschalen. Pauschalen sind eine gute Vergütungsform in vielen Bereichen, nicht nur in der Medizin. Die Frage ist nur, wo man sie anwendet, sonst führen sie zu Fehlanreizen.
Ambulante Fallpauschalen
Der Nutzen flächendeckender Pauschalen ist umstritten: nur Flickwerk oder die praktische Lösung akuter Probleme?
Wo wären sie Ihrer Meinung nach im ambulanten Bereich richtig eingesetzt?
Pius Zängerle: Überall dort, wo man Eingriffe standardisieren und die Leistung auch klar von der Vor- und der Nachleistung abgrenzen kann.
Können Sie ein, zwei Beispiele nennen?
Pius Zängerle: Alle geplanten Interventionen, die eine gewisse, klar begrenzbare Zeit dauern. Augenoperationen, zum Beispiel.
Viele sind das Ihrer Meinung nach aber nicht. Ihr Verband curafutura spricht von 20 Prozent?
Pius Zängerle: Das sind Annahmen basierend auf Erfahrung. Aber ja, wir sind der Meinung, dass es sich im tiefen Bereich bewegen wird. Es gibt viele Leistungen, die nicht den Kriterien entsprechen, die ich erwähnt habe.
«Ich denke allerdings nicht, dass ambulante Pauschalen zu grossen Kosteneinsparungen führen.»
Pius Zängerle
Herr Genoni, sind Sie gleicher Meinung?
Michele Genoni: Es kommt auf die Definition an. Ich glaube auch, dass Pauschalen dann sinnvoll sind, wenn es gut definierbare und auf eine bestimmte Zeit beschränkte Interventionen sind, die man standardisieren kann. Was die Zahlen betrifft, kommt es darauf an, was man anschaut. In den Fachgesellschaften, die ich vertrete, den invasiven, chirurgischen, gehen wir von einem sehr grossen Potenzial aus. Wir denken, dass man die Pauschalen beinahe flächendeckend anwenden kann.
santésuisse, die mit FMCH zu den überzeugten Befürworterinnen von Pauschalen im ambulanten Bereich gehört, spricht von bis zu 80 Prozent.
Michele Genoni: Ich habe 70 Prozent gelesen, aber ja, im spitalambulanten Bereich scheint uns das realistisch. Für mich ist wichtig, dass wir nicht nur ein einziges System haben. Pauschalen sind klar komplementär zum Einzelleistungstarif.
20 Prozent der Leistungen, die man pauschalieren kann, oder 70 Prozent – das ist ein ziemlicher Unterschied. Wie erklären Sie den?
Michele Genoni: Es kommt auf die Definition an. Wenn man sämtliche möglichen ambulanten Eingriffe rechnet, kommt man auf eine andere Zahl, als wenn man sich auf die Aktivitäten der Fachgesellschaften beschränkt, die ich vertrete.
«Für mich ist wichtig, dass wir nicht nur ein einziges System haben. Pauschalen sind klar komplementär zum Einzelleistungstarif.»
Michele Genoni
Gemäss des vom Bundesrat in Auftrag gegebene Expertenberichts würden ambulante Pauschalen zu einer Kosteneinsparung führen. Sehen Sie das auch so, Herr Zängerle?
Pius Zängerle: Ich sehe den Vorteil tatsächlich in der Vereinfachung der Administration. Die Ärztin oder der Arzt kann eine einfache Rechnungsstellung machen, ohne verschiedene Leistungen erfassen zu müssen. Ich denke allerdings nicht, dass ambulante Pauschalen deshalb zu grossen Kosteneinsparungen führen. Die Leistungen an und für sich werden ja nicht günstiger. Ich denke auch nicht, dass FMCH deshalb angefangen hat, Pauschalen zu entwickeln.
Herr Genoni, Sie werden die Pauschalen ja nicht so berechnen, dass Sie zu kurz kommen?
Michele Genoni: Wir gehen in unseren Berechnungen vom Medianwert aus, nicht vom Durchschnittswert. Das heisst, der Ausreisser nach oben wird bluten und der Ausreisser nach unten wird künftig besser entgolten. Die Erfahrung mit Medianwerten zeigt, dass es immer eine Kostenersparnis gibt.
Eine spürbare?
Michele Genoni: Da Ärztinnen und Ärzte künftig nicht mehr verrechnen können, als in der Pauschale inbegriffen ist, wird auch eine gewisse Mengenausweitung nach innen gebremst. Dieser Effekt hilft bei der Kostendämpfung. Ambulante Pauschalen sind ein Puzzleteil. Wie viel dieses zur Kostendämpfung beiträgt, kann ich noch nicht sagen.
Herr Zängerle, Sie haben zu Beginn gesagt, Pauschalen könnten auch zu Fehlanreizen führen. Zu welchen?
Pius Zängerle: Nehmen wir an, dass ein Leistungserbringer einen Eingriff nicht oft macht und dann vielleicht auch noch die schwierigeren Fälle hat: Der wird wenig Interesse haben, diesen Eingriff weiterhin zu machen. Mit nicht geeigneten Pauschalen induzieren wir möglicherweise eine Risikoselektion aufseiten der Medizin.
Sie denken tatsächlich, dass es Ärztinnen und Ärzte geben könnte, die sagen: Dieser Fall ist mir zu kompliziert, den nehme ich nicht an, denn da komm ich mit der Pauschale nicht raus?
Pius Zängerle: Natürlich würde jede ärztliche Fachperson von sich weisen, dass sie so denkt, aber es gibt in der sozioökonomischen Wissenschaft genügend Beispiele, die zeigen, dass schlecht Tarifiertes eher nicht gemacht wird und dass Übertarifiertes im Gegenzug sehr attraktiv ist.
Aber jede Ärztin, jeder Arzt hat doch einen Eid abgelegt, der sie oder ihn verpflichtet, in jeder Situation zu helfen?
Pius Zängerle: Der Arzt oder die Ärztin kann auch einfach das Angebot anpassen oder Patientinnen und Patienten entsprechend auswählen, das sind bekannte Effekte. Ich sage nicht, dass es ein flächendeckendes Problem ist, aber es ist ein potenzielles Risiko.
Herr Genoni, weisen Ärzte gewisse Risiken ab, weil sie zu wenig lukrativ sind?
Michele Genoni: Es gibt in jedem Bereich schwarze Schafe, auch bei uns.
Also könnte es durch die ambulanten Pauschalen tatsächlich zu einer Risikoselektion kommen?
Michele Genoni: Die grosse Mehrheit unserer Kolleginnen und Kollegen macht einen sehr guten Job, auch ethisch. Diese vertrete ich. Wir haben ja auch im stationären Bereich mit den SwissDRG keine Unterversorgung. Wir haben eine gute und flächendeckende Grundversorgung in der Schweiz.
Auch bei komplexen Fällen und grossen Risiken?
Michele Genoni: Man kann ja nicht alles ambulant machen. Verschiedene Faktoren verunmöglichen das. Eine Schrittmacherimplantation kann ambulant durchgeführt werden, aber es braucht eine Nachkontrolle. Was tun Sie im Winter, wenn es um 16 Uhr dunkel wird und Sie haben eine 85-jährige Patientin, die nicht mehr gut zu Fuss und vielleicht auch geistig etwas verlangsamt ist, sodass sie ihr Zuhause nicht mehr findet? Die Frau muss zur Nachbetreuung über Nacht bleiben können. Das heisst, vieles muss man stationär machen. Wichtig ist jedoch, dass es keinen Unterschied zwischen ambulanter und stationärer Vergütung gibt.
Pius Zängerle: Meine Mutter ist 90-jährig, sie hatte dieses Jahr eine ambulante Staroperation, sie musste also nicht über Nacht bleiben. Aber sie hat natürlich einen anderen Durchlauf gehabt als jemand, der vielleicht schon mit 50 genau den gleichen Eingriff braucht.
Sie meinen: komplexer?
Pius Zängerle: Ja, bei einer alten Frau ist es schwieriger, denn sie hat Komorbiditäten. Da muss man gewisse Bedingungen anders abbilden.
Michele Genoni: In der Medizin sind Standards wichtig. Und diese Standards kann man in der Regel in 18 von 20 Fällen anwenden. Natürlich gibt es immer Ausnahmen, aber die grosse Mehrheit der Fälle wird mit den Standards gut abgebildet.
Pius Zängerle: Es kommt ein weiteres Problem dazu: Wenn Pauschalen obligatorisch werden, steigt der Komplexitätsgrad, da so auch für Pauschalen ungeeignete Leistungsbereiche tarifiert werden müssen. Man kann dann nicht mehr sagen: Das ist jetzt eine Ausnahme und das machen wir anders. Da kommen wir in eine Entwicklungslage, die ihre Zeit braucht.
Michele Genoni: Schauen wir doch das deutsche DRG-System an: In Deutschland haben alle Spitäler die gleiche Base-Rate, im Unterschied zur Schweiz, wo jedes Spital eine andere Base-Rate hat. Dafür gibt es in Deutschland ein Zusatzentgelt. Wenn ich also beispielsweise eine sehr risikoreiche Patientin oder einen Patienten habe, die oder den ich nicht ambulant behandeln kann, behandle ich stationär und erhalte dafür ein Zusatzentgelt.
Pius Zängerle: Ja, aber das wird dann eben sehr komplex.
Michele Genoni: Es geht ja nur darum, auch die Ausnahmen zu regeln.
Pius Zängerle: Ja, natürlich. Bei den SwissDRG kennen wir diese Zusatzabgeltungen auch, es sind mehrere Hundert …
Wenn es bei SwissDRG gelungen ist, müsste es ja auch im ambulanten Bereich zu bewältigen sein?
Pius Zängerle: Keine Frage, es ist machbar. Noch einmal: Es geht mir nicht darum, zu sagen, dass Pauschalen schlecht sind. Ich sage einfach: Es
gibt besondere Herausforderungen bei diesen Pauschalen. Und eine davon sind die Ausnahmen im Obligatorium.
Herr Genoni hat ja soeben eine Lösung vorgeschlagen.
Pius Zängerle: Die macht das System eben auch sehr komplex. Und sie führt weg vom Versprechen, dass Pauschalen das Leben vereinfachen und
Probleme auf eine schnelle und unkomplizierte
Art lösen.
Michele Genoni: Wir sollten uns ja jetzt nicht bloss über die Ausnahmen unterhalten …
Pius Zängerle: Doch, in einem obligatorischen System muss man die Ausnahmen beachten.
Herr Zängerle, wenn wir schon über Komplexität reden: Der Weg von TARMED zum neuen Einzeltarifierungssystem TARDOC war ja auch nicht gerade ein einfacher …
Pius Zängerle: Sie bringen Ergebnis und Weg durcheinander. Ich sehe, dass auch bei den Pauschalen ein rechter Weg vor uns liegt, bis wir aus einem freiwilligen, einem lernenden System ein obligatorisches machen können. Die Krankenpflegeversicherung war etwa 100 Jahre freiwillig, erst 1996 kam das Obligatorium. Seither musste man sehr viele Ausnahmen und Ausnahmen von den Ausnahmen regeln, um das Obligatorium umsetzen zu können. Alle Systeme haben eine gewisse Komplexität.
Die SwissDRG, 2012 eingeführt, funktionieren entgegen allen Befürchtungen bestens.
Pius Zängerle: Mit den SwissDRG konnte man so schnell starten, weil man das System eines anderen Landes helvetisiert hat. Danach hat man Jahr für Jahr nachgebessert.
Michele Genoni: Es ist ein lernendes System. Die ambulanten Pauschalen werden sich auch weiterentwickeln, sie haben gerade in unseren Fachgebieten ein grosses Potenzial.
Herr Genoni, haben Sie das Gefühl, dass sich die Qualität durch die Pauschalen verbessert?
Michele Genoni: Wir haben an die Pauschalen ganz bewusst auch Qualitätskennzahlen geknüpft. Ich denke, dass eine steigende Qualität auch einen kostendämpfenden Effekt hat.
Ein gutes Argument für die Pauschalen, Herr Zängerle?
Pius Zängerle: Die Qualität muss so oder so verbessert werden, wir haben ja auch entsprechende Vorgaben vom Gesetzgeber. Qualität ist nicht gebunden an ein Tarifierungssystem, aber man kann beides miteinander verknüpfen, da sehe ich durchaus eine Chance. Für mich bleibt eine andere grosse Frage, die noch nicht beantwortet ist: Wie kommen wir vom Freiwilligen ins Obligatorische?
Herr Genoni, haben Sie eine Antwort?
Michele Genoni: Wir haben beim Bundesrat jetzt einmal 75 Pauschalen zur Genehmigung eingereicht. Sobald sie bewilligt sind, wird es einen Moment dauern, bis alles berechnet ist. Ferner hat das Parlament im Juni entschieden, dass ambulante Pauschalen, wenn bewilligt, verpflichtend sind. Im laufenden Kostensenkungspaket I wird der Weg also vorgespurt.