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Blick auf Europa

Die Schweizer Bevölkerung wird im Vergleich mit anderen europä­i­schen Ländern zwar sehr alt – aber nicht bei so guter Gesundheit. Mit Investitionen in die Prävention wäre das zu ändern.

Nina Emery, Medizinstudentin an der Universität Lausanne

Prof. Antoine Flahault, Direktor des Instituts für globale Gesundheit an der Universität Genf

20. Juni 2023

Zahlreiche Redewendungen rühmen die Vorzüge der Vorsorge. Und doch gleicht der Beitrag der Wirtschaft für die Prävention nur einem Tropfen auf den heissen Stein, während der Löwenanteil der Gesundheitsausgaben auf die Behandlung entfällt. In Europa wurden 2019 nur 2 bis 4 Prozent der Gesund­heitsausgaben in die Prävention investiert (in der Schweiz waren es 2,2 Prozent).

Leistungsfähigkeit der Gesundheitssysteme

Zieht man die Lebenserwartung als Indikator für die Qualität der Gesundheitssysteme heran, verfügt die Schweiz über eines der besten der Welt: 2019 war die Lebenserwartung bei Geburt mit 83,9 Jahren die höchste Europas. Wird hingegen einer der relevantesten Indikatoren für die Wirksamkeit der Präventionspolitik betrachtet, nämlich die Lebenserwartung bei guter Gesundheit, das heisst ohne funktionelle Beeinträchtigungen, so können die 65-Jährigen in der Schweiz weniger als elf Jahre bei guter Gesundheit erwarten, während sich Gleichaltrige in Schweden und Norwegen fast fünf Jahre länger guter Gesundheit erfreuen. Ein beachtlicher Unterschied – Frankreich, Italien, Deutschland und die Niederlande stehen in dieser Hinsicht kaum besser da als die Schweiz.

SchweizDeutsch-landFrankreichItalienNiederlandeGross-britannienNorwegenDäne-markSchweden
Lebenserwartung bei Geburt
In Jahren1
83,981,382,883,582,181,283,081,583,1
Lebenserwartung in guter Gesundheit im Alter von 65 Jahren
In Jahren2
10,911,111,110,59,910,415,211,215,9
Bildung
Durchschnittliche Punktzahl im PISA-Test in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften3
498500494477502504497501502
Soziale Ungleichheit
Gini-Index4
32,731,231,635,928,535,12728,728,8
Luftverschmutzung
In Mikrogramm pro Kubikmeter (PM2,5) / m3 5
10,011,911,415,912,010,06,79,85,7
Impfquote bei Kindern
Durchschnitt für acht Krankheiten6
84,9 %95,3 %93,5 %95,3 %95,8 %95,3 %94,9 %92,1 %92,4 %
Sedentarität
Prävalenz bei Erwachsenen6
26 %46 %32 %45 %29 %38 %34 %31 %25 %
Bluthochdruck
Prävalenz bei Erwachsenen6
23,2 %27,1 %27,5 %27,6 %23,9 %20,3 %23,3 %26,3 %25,9 %
Tabakkonsum
Pro Kopf/Jahr verkaufte Zigaretten6
14411294118713858617216921260724
Alkohol
Pro Kopf/Jahr konsumierte Liter Alkohol6
15,0 18,215,19,810,715,38,912,710,4
Strassensicherheit
Tödliche Unfälle je 1 Million Einwohner/Jahr6
30,337,644,158,731,82624,531,626,8
Vergleich neun europäischer Länder anhand von elf Gesundheitsfaktoren und Indikatoren für Präventionsqualität

Warum die Unterschiede?

Gibt es mit Blick auf die Präventionspolitik Unterschiede zwischen den führenden Ländern und den anderen? Hierzu müssen wir die wichtigsten Gesundheitsfaktoren unter die Lupe nehmen: Was die Leistungsfähigkeit der Bildungssysteme angeht, sind alle europäischen Länder gleichauf. Der höhere Gini-Index der Schweiz weist aber auf mehr soziale Ungleichheit hin als in Schweden oder Norwegen. Aus ökologischer Sicht kann sich die Schweiz betreffend Luftverschmutzung durch Feinstaub zwar mit Deutschland und Frankreich vergleichen, doch die Werte sind fast doppelt so hoch wie in Schweden und in Norwegen. Und während in anderen europäischen Ländern mehr als 90 Prozent der Kinder über einen ausreichenden Impfschutz (für acht Kinderkrankheiten) verfügen, hinkt die Schweiz mit einer Impfquote von weniger als 85 Prozent auch hier hinterher. Beim Bewegungsverhalten ist die Schweiz mit einer geringen Seden­taritätsrate – die Rate körperlich inaktiver Personen – der erwachsenen Bevölkerung mit Schweden, den Niederlanden und Dänemark vergleichbar. Dasselbe gilt für den Bevölkerungsanteil mit Blut­hochdruck. Doch werden in der Schweiz pro Kopf doppelt so viele Zigaretten verkauft wie in Schweden oder Norwegen. Ebenso ist der Pro-Kopf-Konsum von Alkohol mehr als 50 Prozent höher als in den beiden Ländern im Norden Europas. Was die gesunde Ernährung betrifft, liegen die Schweizerinnen und Schweizer im Mittelfeld und damit einmal mehr hinter Schweden und Norwegen.

Verbesserungspotenzial

Trotz eines leistungsfähigen Gesundheitssystems und der hohen Lebenserwartung könnte sich die Schweiz bei der Prävention die skandinavischen Länder zum Vorbild nehmen und den Fokus auf den langfristigen Erhalt einer möglichst guten Gesundheit seiner alternden Bevölkerung legen.

«Bei Tabakkonsum, Alkoholmissbrauch und gesunder Ernährung lässt sich eine gewisse selbst­gefällige Nachlässigkeit beobachten.»

Nina Emery, Antoine Flahault

Obgleich die Schweizer Bevölkerung eine der am wenigsten sedentären und hypertensiven ist, lässt sich in Bezug auf Tabakkonsum, Alkoholmissbrauch und gesunde Ernährung eine gewisse selbstgefällige Nachlässigkeit beobachten. Hier liegt das Land noch weit hinter den wissenschaftlichen Empfehlungen zurück, die auf Verbesserungspotenzial betreffend dieser drei grössten Risikofaktoren für chronische Krankheiten hinweisen. Beeinflusst durch eine wissenschaftsfeindliche Strömung steht zudem ein Teil der Bevölkerung den Impfungen gegen Kinderkrankheiten skeptisch gegenüber und es wäre wohl angezeigt, diese Haltung verstehen. Den populistischen Argumentationen in diesem Thema sollte dann energischer begegnet werden. Um die gute Gesundheit der Bevölkerung zu erhalten, würde die Schweiz auf struktureller Ebene viel gewinnen, wenn sie die Luftverschmutzung, Ursache für Atemwegserkrankungen, sowie die soziale Ungleichheit, einer der wichtigsten Faktoren für gesundheitliche Ungleichheit, entschiedener bekämpfen würde.

Quellen

1. Life expectancy at birth, total (years) | Data [Internet]. [abgerufen am 28. Februar 2023]. Unter https://data.worldbank.org/indicator/SP.DYN.LE00.IN

2. Healthy life years statistics [Internet]. [abgerufen am 7. März 2023]. Unter https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Healthy_life_years_statistics

3. PISA – Report [Internet]. [abgerufen am 28. Februar 2023]. Unter https://pisadataexplorer.oecd.org/ide/idepisa/

4. Gini index | Data [Internet]. [abgerufen am 28. Februar 2023]. Unter https://data.worldbank.org/indicator/SI.POV.GINI

5. Air and climate – Air pollution exposure – OECD Data [Internet]. theOECD. [abgerufen am 6. März 2023]. Unter http://data.oecd.org/air/air-pollution-exposure.htm

6. Bjornberg A. Euro Health Consumer Index 2017. 2018;

Nina Emery

studiert Medizin an der Universität Lausanne und spezialisiert sich auf die Wechselwirkungen zwischen Gesundheit und Umwelt.

Prof. Antoine Flahault

ist Epidemiologe, Direktor des Instituts für globale Gesundheit an der Universität Genf und Co-Direktor der Swiss School of Public Health.

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