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Wissen umsetzen und Dialog fördern 

Das Schweizer Gesundheitssystem steht vor immer neuen Heraus­forderungen. Eine davon ist der Fachkräftemangel. Um zukunftsfähige Lösungen zu entwickeln, braucht es einen kontinuierlichen Dialog zwischen Forschung, Praxis und Politik.

Dr. Sarah Mantwill, Forschungsmanagerin im Swiss Learning Health System (SLHS)

Natalie Marie Messerli, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Swiss Learning Health System (SLHS)

Manuela Oetterli, Wissenstransferbeauftragte des Nationalen Forschungsprogramms (NFP) 74 des SNF

19. Oktober 2023

Das Schweizer Gesundheitssystem sieht sich trotz Bemühungen einem steigenden Personalbedarf gegenüber und die Pflegeinitiative stellt den jüngsten Versuch dar, passende Lösungen zu finden. Doch wie können wirksame und relevante Massnahmen identifiziert und umgesetzt werden und wie kann verhindert werden, dass Inhalte bei Erreichung der Praxis so verwässert sind, dass nur ein Rinnsal ursprünglicher Empfehlungen ankommt?

«Integrated Knowledge Translation (IKT)»

Ein Schlüsselkonzept hierbei ist der Wissenstransfer («Knowledge Translation», KT) und insbesondere die «Integrated Knowledge Translation (IKT)».1 IKT sieht vor, potenzielle Nutzerinnen und Nutzer von Forschungsergebnissen von Anfang an in Forschungsprozesse einzubinden mit dem Ziel, die Perspektiven von Politik und Praxis zu berücksichtigen und Systemveränderungen zu antizipieren. Schon die einfache Frage «Was müssen Sie wissen, um Ihre Arbeit zu tun?» kann wichtige Erkenntnisse liefern. Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger können so ihre Fragen und Bedürfnisse frühzeitig in Forschungsprojekte einbringen und ihren Bedarf bezüglich evidenzinformierten Entscheidungsgrundlagen decken.

IKT-Massnahmen umsetzen

Um IKT nachhaltig zu fördern, sind Massnahmen notwendig, die über herkömmliche Projektförderung hinausgehen:

Knowledge Translation: Damit Knowledge Translation (KT) ein dauerhafter und integraler Bestandteil von politischen Entscheidungsprozessen wird, müssen routinemässige Wissenstransfer­prozesse und die Nachfrage nach Evidenz vorhanden sein. Diese routine­mässigen Prozesse stärken die Legitimität von KT und basieren auf sechs Schlüsseldomänen.
  1. Partnerschaft, kollektives Handeln und Unterstützung: Interaktion und Partnerschaften sind entscheidend für die Identifikation von Ressourcen und die technische Unterstützung. Beispiel: Partnerschaften zur Identifikation gemeinsamer Ziele.
  2. Kultur: Grundwerte ermöglichen ein gemeinsames Verständnis von KT, dessen Wert und den zu erwartenden Aktivitäten. Beispiel: Schulungen für Mitarbeitende und Entscheidungsträger zur Förderung des Verständnisses und der Wertschätzung von KT.
  3. Governance: Regelungs- und Steuerungsfunktionen, inkl. Strukturen, Mandate oder Plattformen, die Forschung und Politik verbinden. Beispiel: Ein Ausschuss für Gesundheitsforschung zur Koordination von Forschung und Politik.
  4. Führung und Engagement: Unterstützung und Mentoring durch Führungskräfte sind entscheidend für evidenz­informierte Politik. Beispiel: Hochrangige Führungskräfte setzen sich mit Taten und Worten für evidenzbasierte Entscheidungen ein.
  5. Ressourcen: Für die Institutionalisierung evidenzinformierter Politik sind personelle, finanzielle und materielle Ressourcen zentral. Beispiel: Ein Budget für KT-Aktivitäten und speziell ausgebildetes Personal zur Unterstützung von KT-Prozessen.
  6. Standards und Routineprozesse: Für qualitativ hochwertige KT-Produkte und -Prozesse, denen Entscheidungsträger vertrauen. Beispiel: Standardisierter Leitfaden für den Einbezug von Forschungsergebnissen in politische Entscheidungsprozesse.

Die Grafik bezieht sich auf Wissenstransfer (Knowledge Translation – KT) allgemein und nicht speziell auf den integrierten Ansatz (IKT).

Massnahmen in der Schweiz

Für die Institutionalisierung von IKT sind ausreichende Ressourcen sowie eine kritische Masse an Personen, die Evidenz aktiv und routinemässig anwenden, zentral. Für die Pflegeinitiative z. B. bedeutet das obengenannte konkret, dass transdisziplinäre Teams auf allen Ebenen von Anfang an beteiligt sein müssen. Neben Begleitforschung müssen bestehende Best Practices analysiert und institutionengerecht aufbereitet werden. Hierfür sind Plattformen erforderlich, die den Austausch unterstützen – sowohl zwischen den Disziplinen als auch zwischen föderalen Ebenen. Ebenfalls wichtig sind das Begleitmonitoring und die Nutzung existierender Datenquellen (z. B. Schweizer Kohorten-Studie der Gesundheitsfachkräfte und pflegenden Angehörigen) für die iterative Anpassung von Massnahmen. Solche routinemässigen Prozesse, wie von der WHO2 empfohlen, sind entscheidend für die Verankerung von Wissenstransfer in politische Entscheidungsprozesse. Ein Beispiel für diesen routinemässigen Austausch ist die Schweizer Initiative «Smarter Health Care System», die aus dem NFP 74 und dem Swiss Learning Health System (SLHS) entstanden ist und den Dialog zwischen verschiedenen Akteuren fördern soll. Sie wird unter dem Dach der Swiss School of Public Health (SSPH+) und in Partnerschaft mit dem BAG, der GDK, dem Obsan, dem Swiss Personalized Health Network (SPHN) umgesetzt.

Quellen

  1. Lawrence, L. M., Bishop, A., & Curran, J., Integrated knowledge translation with public health policy makers: a scoping review, Healthcare Policy, 14(3), 55, 2019.
  2. Kuchenmüller, T., & Dos Santos Boeira, L., Routinizing the Use of Evidence in Policy – What is Needed?; Comment on “Sustaining Knowledge Translation Practices: A Critical Interpretive Synthesis”, International Journal of Health Policy and Management, 2023.

Dr. Sarah Mantwill

ist Forschungsmanagerin im Swiss Learning Health System (SLHS) an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften und Medizin der Universität Luzern.

Natalie Marie Messerli

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Swiss Learning Health System (SLHS) an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften und Medizin der Universität Luzern.

Manuela Oetterli

ist Mitglied der Geschäftsleitung von Interface Politikstudien Forschung Beratung in Luzern und seit 2016 Wissenstransferbeauftragte des Nationalen Forschungsprogramms (NFP) 74 des SNF.

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