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«2030 wird es nur noch koordinierte Modelle geben»

Kann die integrierte Versorgung in einem System mit Wahlfreiheit und Vertragszwang funktionieren? BAG-Vizedirektor Stefan Spycher und Antoine Hubert, VR-Delegierter der Privatklinikgruppe Swiss Medical Network, debattieren – über Skype, wie im Rahmen der Covid-19-Massnahmen üblich.

Stefan Spycher, ehemaliger Vizedirektor des Bundesamts für Gesundheit (BAG)

Antoine Hubert, ist Delegierter des Verwaltungsrats der Klinik- und Hotelgruppe Aevis Victoria.

Patrick Rohr, Journalist und Moderator

26. Juni 2020

Patrick Rohr (PR): Zum Begriff der integrierten Versorgung gibt es ja verschiedene Vorstellungen. Klären wir doch zu Beginn gleich, wer was darunter versteht. Herr Spycher, was ist für Sie integrierte Versorgung?
Stefan Spycher (SS): Beim Bund reden wir inzwischen von koordinierter Versorgung. Es geht darum, die Sicht des Patienten einzunehmen, der verschiedene Leistungserbringer braucht. Diese müssen aufeinander abgestimmt sein, im besten Interesse des Patienten.

Integrierte Versorgung – wie weiter?

PR: Und wer koordiniert die verschiedenen Leistungserbringer?
SS: Für viele Patienten ist der Grundversorger, also der Hausarzt oder die Hausärztin, die logische Stelle. Es kann aber auch ein Spezialist sein oder die Spitex.

PR: Herr Hubert, wie sieht Ihre Vorstellung von integrierter Versorgung aus?
Antoine Hubert (AH): Meine ideale Vorstellung ist das Modell von Kaiser Permanente in den USA (siehe S. 10; Red.). Man ist dort nicht mehr Patient oder Versicherter, sondern Mitglied. Man zahlt anstelle einer Prämie einen festen Jahresbeitrag, und entsprechend hat die Organisation ein Interesse, das Mitglied möglichst gesund zu erhalten. Wir sind am Hôpital du Jura Bernois beteiligt; dort beabsichtigen wir, ein Modell, das in diese Richtung geht, zu testen. Bald werden wir imstande sein, die gesamte Versorgungskette abzudecken.

«Wir müssen heute junge, gesunde Leute für solche Netzwerke begeistern und schauen, dass wir sie behalten können.»

Antoine Hubert

PR: Widerspricht ein solch geschlossenes System nicht der Wahlfreiheit?
AH: Als Versicherter können Sie wählen, ob Sie die totale Wahlfreiheit möchten oder ob Sie, für eine tiefere Prämie, Ihre Wahlfreiheit beschränken möchten. Wenn Sie unzufrieden sind, haben Sie die Möglichkeit, am Ende des Jahres wieder ins normale Prämiensystem zu wechseln.

PR: Sich als Mitglied in ein geschlossenes System einzukaufen – wäre das ein Modell, das auch in der Schweiz funktionieren könnte, Herr Spycher?
SS: Die Schweiz war ein Vorläufer bei der Managed Care. Wir hatten Anfang der 1990er-Jahre die ersten HMO-Zentren in Europa, man schaute auf uns. Und bei der Einführung des KVG im Jahre 1996 verankerten wir die Möglichkeit verschiedener Versicherungsmodelle sogar im Gesetz. Aber leider ist seither nicht mehr viel passiert. Wir denken darum, dass wir den Prozess beschleunigen sollten, denn die Vorteile der integrierten Versorgung sind unbestritten.

PR: Also wäre es in der Schweiz durchaus möglich, solche geschlossenen Systeme zu etablieren?
SS: Wir stellen uns das so vor: Etwa 90 Prozent der Patientinnen und Patienten erleben Episoden; sie kommen also ins System rein und gehen wieder raus, nach einem Unfall zum Beispiel oder weil sie die Gallenblase entfernen müssen. Diese Leute sollen neu ein Eingangstor ins Gesundheitssystem haben, ähnlich wie beim Hausarztmodell: Dort bekommen sie eine «Erstberatung Gesundheit», wie wir das nennen, und dann werden sie ins System geführt. Für die andere Gruppe, die 5 bis 10 Prozent der multimorbiden Patienten, wollen wir koordinierte  Versorgungsnetzwerke etablieren, ähnlich wie sie Herr Hubert skizziert hat: mit Psychiatern, Gynäkologen, Hausärzten, Pflegenden und so weiter. Diese Zentren können auch virtuell miteinander verbunden sein. Sie müssen einfach die ganze Kette im ambulanten Bereich abdecken.

PR: Innerhalb dieser Zentren wäre die Wahlfreiheit der Patientinnen und Patienten aber beschränkt?
SS: Genau. Aber so weit sind wir noch nicht. Jetzt wollen wir zuerst einmal die Idee etablieren, also auf der einen Seite eine Anlaufstelle für die Erstberatung Gesundheit anbieten und auf der anderen Seite ein koordiniertes Versorgungsnetz. Dort gäbe es übrigens eine Pauschalzahlung, nicht mehr eine Fee-for Service wie heute.

PR: Das ist ja einer der Kernpunkte Ihres Modells, Herr Hubert: keine Fee-for-Service, sondern eine Pauschalzahlung. Ihre Wünsche scheinen bald alle erfüllt, wenn ich Herrn Spycher zuhöre?
AH: Der Bund war auch nie unser Problem. Ich komme aus dem Wallis. Wollten wir da die Orthopädie zum Beispiel in Martigny zentralisieren, dürften wir auf keinen Fall sagen: «Ab dem 1. Januar ist die Orthopädie für das ganze Wallis in Martigny.» Das gäbe einen Aufstand! Nein, wir müssten einfach die besten Orthopäden nach Martigny bringen, das beste Equipment – und schon würden alle Walliser von sich aus dorthin gehen. Nach fünf Jahren könnten Sie alle anderen Orthopädiepraxen schliessen, ohne Problem. Wir müssen einfach die richtigen Anreize finden.

PR: Sie glauben, die Leute würden dann automatisch mitziehen? Es ist nicht lange her, acht Jahre, dass die Managed- Care-Vorlage mit wuchtigen 75 Prozent der Stimmen abgelehnt wurde. Denken Sie, die Bereitschaft für einen Systemwechsel ist heute schon da?
AH: Es wird eine Generation brauchen, um diese Änderung zu vollziehen. Wir müssen heute junge, gesunde Leute für solche Netzwerke begeistern und schauen, dass wir sie behalten können. Auch bei den Ärzten braucht es eine Generation für den Wandel, viele junge sind sehr interessiert an neuen Modellen.

PR: Sehen Sie das auch so, Herr Spycher?
SS: Zwei Drittel der Bevölkerung haben ja heute schon ein spezielles Versicherungsmodell.

«Die Erstversion des EPD ist noch nicht die Luxusversion, klar, es ist eine Startversion, und die muss man jetzt weiterentwickeln.»

Stefan Spycher

PR: Also ein Hausarzt- oder HMO-Modell, zum Beispiel?
SS: Genau. Und deshalb glauben wir, dass die Anlaufstelle «Erstberatung Gesundheit» mehrheitsfähig ist. Bei den koordinierten Versorgungsnetzwerken denken wir, dass sie auch für junge Ärzte attraktiv sind. Viele wollen nicht mehr selbstständig sein, sie lassen sich lieber anstellen, weil sie im Netzwerk alles haben, auch eine technisch hervorragende Infrastruktur. Und das ist der Hebel zu den Patienten: Wenn die merken, dass die Qualität bei den Netzwerken stimmt, dass die angeschlossenen Stellen gut aufeinander abgestimmt und jederzeit hervorragend dokumentiert sind, dann schliessen sie sich freiwillig diesen Netzen an. Aber ich bin mit Herrn Hubert einig, dass es eine Generation braucht. Es wäre nur mit Zwang schneller umzusetzen, aber Zwang entspricht nicht unseren Werten.

PR: Ihr Optimismus in Ehren, Herr Spycher, aber wenn ich sehe, wie lange es gedauert hat, bis das elektronische Patientendossier (EPD) dieses Jahr endlich eingeführt wurde – auf freiwilliger Basis und mit PDF statt einer richtigen Datenbank …
SS: Die Erstversion des EPD ist noch nicht die Luxusversion, klar, es ist eine Startversion, und die muss man jetzt weiterentwickeln. Das EPD ist das Rückgrat der koordinierten Versorgung. Im Ausland ist es zum Teil schon längst eine Selbstverständlichkeit, bei uns hat die Einführung zehn Jahre gedauert, das muss man respektieren. Aber jetzt können wir vorwärtsschauen und dieses Instrument einsetzen.

PR: Herr Hubert, reicht Ihren Kliniken eine PDF-Sammlung, um Ihre Vorstellung von integrierter Versorgung umzusetzen?
AH: Man muss mit etwas beginnen. Das EPD ist ein erster Schritt, ein Anreiz für die verschiedenen Player, Daten zu sammeln. Jetzt muss man noch das richtige System finden, um es automatisch mit den Daten zu füllen.

PR: Aber davon sind wir noch weit entfernt.
AH: Es ist eine riesengrosse Arbeit. Wir haben in der Schweiz 37 000 Ärzte, die sich zuerst einmal mit dem System vernetzen müssen. Und dann muss das System noch einfacher werden, interaktiver, benutzerfreundlicher. Aber das kommt schon.
SS: Ich bin froh, dass Herr Hubert so argumentiert. Ich sehe das genau gleich. Wir haben jetzt eine Startkonfiguration mit PDF, und klar werden Leute sagen, das sei «letztes Jahrhundert». Aber es geht ja weiter. Schon nächstes Jahr wollen wir schweizweit strukturierte Information im System haben: Medikamente mit Dosierungen, Impfungen, Notfallausweise und so weiter. Und durch die Digitalisierung im Gesundheitswesen gibt es noch viel mehr Möglichkeiten. All die Informationen beispielsweise, die man mit den Gesundheits-Apps auf seinem Mobiltelefon sammelt, können ins EPD fliessen.
AH: Und wenn das Coronavirus einen Vorteil hat, dann den, dass es die Digitalisierung im Gesundheitswesen beschleunigen wird.

PR: Ich bin nicht sicher, ob alle Versicherten ihre Gesundheitsinformationen an einem Ort versammelt haben möchten – ohne zu wissen, wer in der langen Versorgungskette alles darauf zugreifen kann …
SS: Sie können bei jedem Befund, bei jedem Dokument entscheiden, wer von den 30’000 angeschlossenen Gesundheitsfachpersonen Zugriff haben soll und wer nicht. Die Frage ist natürlich: Werden Sie diesen Aufwand betreiben? Aber grundsätzlich haben Sie als Patient eine hohe Selbstbestimmung. Und ja, wie jedes IT-System ist auch dieses nicht zu hundert Prozent sicher. Wir werden es so sicher wie möglich entwickeln und aus Fehlern lernen. Aus lauter Angst nichts zu tun, wäre falsch. Wir müssen das Risiko minimieren, aber wir müssen dieses minimierte Risiko auch in Kauf nehmen.

PR: Über einen Player haben wir bisher nicht geredet: den Versicherer. Herr Hubert, rennen Sie mit Ihrem Modell im Berner Jura bei den Krankenversicherern offene Türen ein?
AH: Was ist der Zweck einer Versicherung? Ihre Hauptaufgabe ist es, den Risikoausgleich zu machen. Das kann aber auch ein Algorithmus. Vor 20 Jahren, als alles noch manuell erledigt werden musste, da brauchte es Versicherungen. Aber heute nicht mehr, sie sind eigentlich überflüssig. Das ist auch der Grund, warum die Versicherungen bei diesem Thema nicht wirklich mitmachen. Die integrierte Versorgung kannibalisiert ihren eigentlichen Zweck.

Interview: Patrick Rohr

PR: Herr Spycher, teilen Sie diese Ansicht? Werden die Versicherungen überflüssig?
AH: Sie dürfen bei dieser Frage den Joker einsetzen!
SS: Wir haben in der Schweiz schon mehrfach über die Einführung einer Einheitskasse abgestimmt. Die Ergebnisse waren immer eindeutig. Ich glaube, man muss akzeptieren, dass die Bevölkerung mehrere Versicherer möchte. Das gibt Wettbewerb, und der Wettbewerb soll etwas Positives bewirken, auch zwischen Leistungserbringern.

PR: Aber müsste man dann konsequenterweise nicht gewisse gesetzliche Hürden abbauen, den Kontrahierungszwang zum Beispiel
SS: Ich bin Ökonom. Strenggenommen gibt es in dem Konzept, das wir in der Schweiz haben, im regulierten Wettbewerb, keinen Kontrahierungszwang. Aus ökonomischer Sicht ist der Kontrahierungszwang ein Systemfehler. Die Frage ist aber schon sehr lange politisch umstritten, und ich denke, man muss hier pragmatisch sein und akzeptieren, dass man das jetzt nicht ändern kann. Aber rein systemlogisch müssten wir die Vertragsfreiheit haben.

PR: Das integrierte Modell, wie Sie es ganz am Anfang vorgeschlagen haben, Herr Hubert, funktioniert nur mit Vertragsfreiheit richtig?
AH: Ja, ein integriertes Modell kann mit Vertragszwang nicht funktionieren. Aber der Patient hat ja zum Glück die Wahl, in ein beschränktes System zu gehen oder in ein nicht beschränktes. Und das System ohne Beschränkungen wird dann halt teurer sein.

PR: Und dafür brauchen wir auch keine Gesetzesänderung?
SS: Die einzige Frage ist, wie schnell wir vorwärtsgehen wollen. Ich behaupte, im Jahr 2030 werden wir in der Schweiz ausschliesslich koordinierte Versorgungsmodelle haben. Wollten wir sie jetzt, im Jahr 2020, einführen, gäbe es viele Widerstände. Es muss als zarte Pflanze anfangen, und in ein paar Jahren sagen wir dann, wir möchten das wachsen lassen, bis es immer stärker wird. Und in zehn Jahren werden wir unser Ziel erreicht haben.

Stefan Spycher

war Vizedirektor des Bundesamts für Gesundheit (BAG) und verantwortlich für den Direktionsbereich Gesundheitspolitik. Zuvor war er Leiter des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums sowie Mitinhaber und Geschäftsleiter des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien, BASS. Im Oktober 2020 wird er CEO von Careum.

Antoine Hubert

ist Delegierter des Verwaltungsrats der Klinik- und Hotelgruppe Aevis Victoria. Innerhalb der Gruppe leitet er die Swiss Medical Network SA mit 23 Spezialkliniken in der ganzen Schweiz. Bevor Antoine Hubert 2002 einen Anteil an der Clinique de Genolier erwarb und 2004 das Swiss Medical Network gründete, war er hauptsächlich in den Bereichen Liegenschaften und Immobilien tätig.

Patrick Rohr

ist Journalist, Moderator, Fotograf und Kommunikationsberater mit eigener Firma in Zürich. Bis 2007 arbeitete er für das Schweizer Fernsehen, unter anderem als Redaktor und Moderator der Sendungen Schweiz aktuell, Arena und Quer.

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