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Das Nutzenpotential der Digitalisierung

Geeignete Rahmenbedingungen, über­geordnete Finanzierungsmechanismen und Deregulierung: drei Thesen zur Digitalisierung des Gesundheitswesens.

Dr. Marion Hämmerli, Associate Partner bei McKinsey & Company

17. Februar 2022

McKinsey hat in Zusammenarbeit mit der ETH das Nutzenpotenzial durch die Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen auf 8,2 Mrd. Franken geschätzt. Dieses liesse sich realisieren, wenn verfügbare Technologien im Schweizer Gesundheitssystem vollständig implementiert würden.1 Die Frage stellt sich, wieso die Schweiz dieses Potenzial bisher nicht ausgeschöpft hat und im Vergleich mit anderen Ländern hinterherhinkt.2 In diesem Zusammenhang wird nicht zuletzt die Regulierung des Gesundheitswesens erwähnt, die im Folgenden mit drei Thesen beleuchtet wird.

These 1

Digitalisierung setzt operative Zusammenarbeit und richtige Rahmenbedingungen voraus.

Erfolgreiche Digitalisierung setzt unter anderem die Kompatibilität von Systemen der verschiedenen Teilnehmer voraus. Nur auf diese Weise können die Wertschöpfungsketten der am Gesundheitswesen beteiligten Player besser aufeinander abgestimmt, aufgebrochen und neu designt werden.

Dies bedingt eine adäquate Infrastruktur und Regeln für den Austausch medizinischer Daten, wie internationale Erfahrungen (z. B. Gesundheitsakte in Schweden) zeigen. Aktuell tut sich die Schweiz schwer, wie das elektronische Patientendossier (EPD) veranschaulicht. Digitale Infrastruktur muss aber nicht immer zwingend vom Staat bereitgestellt werden, sondern kann subsidiär seitens der Marktteilnehmer aufgebaut werden, wenn die richtigen Rahmenbedingungen gegeben sind (z. B. Fernüberwachungssysteme in den Niederlanden).

These 2

Ein übergeordneter Finanzierungsmechanismus ist wünschenswert, bereits heute stehen jedoch viele Möglichkeiten offen.

«Digitale Gesundheit» dürfte sich grossflächig nur dann durchsetzen, wenn ein Finanzierungsmechanismus dafür besteht. Leistungserbringer verlangen, dass derartige Leistungen entschädigt werden. Krankenversicherer befürchten, dass eine Aufnahme von digitalen Anwendungen in den KVG-Katalog zu Mengenausweitungen führt.

Es braucht – da ist der Regulator gefordert – einen klar kommunizierten und transparenten Zulassungsweg für digitale Gesundheitsanwendungen. Das Gebot des Schutzes der Person setzt voraus, dass digitale Anwendungen den gleich strengen Zulassungskriterien unterliegen wie herkömmliche Therapien (Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit). Und: Es braucht ein effektives Monitoring der damit verbundenen Auswirkungen und Kosten.

Fehlende Finanzierungssicherheit und schleppende Zulassungen dürfen aber nicht zu einem Stillstand der digitalen Entwicklung führen. Individuelle Lösungen zu suchen (z. B. im Rahmen der Zusatzversicherung) macht unternehmerisch mehr Sinn, als auf eine (politische) Finanzierung durch die Grundversicherung zu warten.

These 3

Digitalisierung erlaubt es uns, die Gesundheitsversorgung grundsätzlich neu zu denken. Die regulatorischen Schranken werden fallen oder neu geschrieben.

Das schweizerische Gesundheitswesen ist entlang der Finanzierung (Steuern, Prämien) und entlang der Zuständigkeiten (Kantone, Bund, Private) gebaut worden. Über die Zeit sind immer mehr Regulierungen und Feinadjustierungen auf allen Ebenen dazugekommen. Aktuell steht das historisch gewachsene System vor der Fragestellung, wie ambulante Medizin tatsächlich und ohne zusätzliche Kosten regulatorisch gefördert werden kann.

Noch viel fundamentaler greifen die Möglichkeiten der Digitalisierung in das System ein. Sie stellen Patientinnen und Patienten, Kundinnen und Kunden, den Menschen stärker in den Vordergrund und ermöglichen es, dass Kunden sich permanent selbst vermessen und überwachen können. Früh­erkennung und Prävention rücken in den Vordergrund, sagt beispielsweise Gregor Zünd, CEO des USZ.3 Genau solche Möglichkeiten setzen strukturelle Anpassungen voraus, denn sie sind im aktuellen regulatorischen Rahmen nicht abbildbar.

Fazit

Der Spagat zwischen Regulierung und Digitalisierung ist gross. Aber es nützt nichts, die Regulierung als Verhinderer der Digitalisierung zu beklagen. Vielmehr braucht es den Mut aller Beteiligten, vorhandene Spielräume zu nutzen und neue Wege im adäquaten Rahmen (z.B. regionale Pilotprojekte, Experimentierartikel) zu erproben und damit das Gesundheitssystem teilweise neu zu erfinden.

Quellen

1 Der Betrag berücksichtigt keine Implementierungskosten. Siehe McKinsey, ETH: Digitalisierung im Gesundheitswesen: Die 8,2 Mrd.-CHF-Chance für die Schweiz, 2021.
2 Zum Beispiel gemäss dem «Digital Health Index» der Bertelsmann Stiftung.
3 «Wie die Digitalisierung das Unispital verändert», Kalaidos Fachhochschule Schweiz, Januar 2020.
4 Jeweils Obergrenze des Wertbereichs, ohne Investitionskosten.
5 Ohne Kosten für zahnärztliche Behandlungen, Gesundheitsversorgung durch den Staat oder Versicherer sowie Dienstleistungen von Präventions- und Unterstützungsorganisationen.

Dr. Marion Hämmerli

ist Associate Partner bei McKinsey & Company mit Fokus auf Wachstums- und Innovationsthemen für Kranken- und Lebensversicherer.

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