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Eigenverantwortung stärken? Ja, aber zielgerichtet.

Personen mit niedrigerem sozioökonomischem Status haben ein schlechteres Gesundheitsverhalten und eine geringere Gesundheitskompetenz. Inwiefern können diese Menschen mit spezifischen Massnahmen zur Stärkung der Eigenverantwortung erreicht werden?

Cornel Kaufmann, Ökonom und Projektleiter bei Interface Politikstudien

Stefan Boes, Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Luzern

14. Februar 2019

Die Stärkung der Eigenverantwortung wird in verschiedenen kantonalen und nationalen Gesundheitsstrategien gefordert, wie beispielsweise in der Strategie Gesundheit2020 oder der Strategie zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten. Eigenverantwortung hat diverse Facetten, und das Verständnis unterscheidet sich zwischen Akteuren wie Krankenkassen, Patientengruppen oder der Ärzteschaft. In unserem Verständnis umfasst eigenverantwortliches Handeln vor allem eine informationsbasierte Entscheidungsfindung von Individuen unter Einbezug ihrer Präferenzen und allfälliger finanzieller und nichtfinanzieller Konsequenzen. Entscheide können zusammen mit Expertinnen und Experten, wie beispielsweise Ärzten oder anderen Gesundheitsfachleuten, getroffen werden. Entsprechend kümmern sich Individuen verantwortungsbewusst um ihre Gesundheit und bewegen sich aktiv und kostenbewusst durch das Gesundheitssystem, was letztlich auch zu einer effizienteren Versorgung beiträgt. Im Zusammenhang mit Eigenverantwortung stellt sich jedoch die Frage, ob alle Personen die gleichen Voraussetzungen für eigenverantwortliches Handeln mitbringen.

Eigenverantwortung im Gesundheitswesen

Was sagen die Daten?

Gemäss einer Studie zum Gesundheitsverhalten, die wir im Auftrag des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Obsan durchgeführt haben, unterscheidet sich das Gesundheitsverhalten je nach sozioökonomischem Status. Der Anteil Personen mit mindestens zwei negativen Gesundheitsverhalten* betrug 2012 im niedrigsten Einkommensquintil 37,5 Prozent. Bei den Individuen mit den höchsten Einkommen betrug dieser Anteil nur 22,1 Prozent. Das Bildungsniveau erklärt hierbei den grössten Teil dieser Differenz. Personen mit niedrigerem Bildungsniveau manifestieren häufiger schädliches Gesundheitsverhalten und sind öfter in den tiefen Einkommensgruppen vertreten (siehe Grafik). Die Kombination von negativem Gesundheitsverhalten geht im Allgemeinen mit einem schlechteren Gesundheitszustand einher. Ein analoges Bild zeichnet die Verteilung der Gesundheitskompetenz nach Einkommensgruppen. Das Konzept der Gesundheitskompetenz beschreibt, inwiefern Personen die Fähigkeit besitzen, sich relevante Informationen zu beschaffen, diese zu verstehen und anzuwenden, um damit die eigene Gesundheit zu fördern. Personen in tieferen Einkommensgruppen weisen eine deutlich geringere Gesundheitskompetenz auf. Ausgehend von der Prämisse, dass gute Gesundheit grundsätzlich wünschenswert ist, legen die präsentierten Ungleichheiten nahe, dass auch die Voraussetzungen, Eigenverantwortung zu übernehmen, je nach Gruppenzugehörigkeit divergieren.

Zielgruppengerechte Massnahmen

Individuen mit relativ niedrigem Bildungsniveau, wenig förderlichem Gesundheitsverhalten und tieferer Gesundheitskompetenz könnten besonders von Massnahmen zur Stärkung der Eigenverantwortung profitieren. Um Eigenverantwortung übernehmen zu können, wird vorausgesetzt, dass relevante Informationen verfügbar und zugänglich sind. Die Informationen und die Hintergrundverwendete (Bild-)Sprache sollten hierbei gut auf die Bedürfnisse der anzusprechenden Bevölkerungsgruppen zugeschnitten sein und von einem vertrauenswürdigen Absender stammen. Die neuere Forschung zeigt, dass personalisierte Informationen in dem Kontext besonders erfolgversprechend sind.

Als Beispiel wurden in einem von der CSS Versicherung durchgeführten Pilotprojekt ältere Personen per Post darüber informiert, bei welcher Apotheke in ihrer Umgebung sie sich gegen Grippe impfen lassen können. Solche Massnahmen fördern das individuelle Bewusstsein über die möglichen Folgen einer Grippe und motivieren die Personen zu einem kostengünstigen Erhalt der Grippeimpfung.

Ein anderes Beispiel sind Personen mit niedrigem Einkommen, die über den Bezug von Prämienverbilligung identifiziert werden und gezielt über Versicherungsalternativen, wie beispielsweise Managed-Care-Modelle, informiert werden können.

Eine weitere mögliche Zielgruppe stellen chronisch kranke Personen dar. Bei dieser Gruppe könnten vermehrt (digitale) Gesundheitscoaches zum Einsatz kommen. Dadurch können bei Patientinnen und Patienten Verhaltensänderungen und eine höhere Therapietreue erzielt werden. Zusätzlich werden Betroffene befähigt, Veränderungen im Gesundheitszustand schneller zu erkennen und entsprechend zu handeln. Gemäss ersten Erkenntnissen stärkt dies das individuelle Wohlbefinden und reduziert die Anzahl Arztbesuche.

Konkrete Einführung der Massnahmen

Bei der Ausarbeitung von zielgruppenspezifischen Massnahmen zur Stärkung der Eigenverantwortung ist eine experimentelle Vorgehensweise anhand von Pilotversuchen empfehlenswert. Nur durch eine wissenschaftliche Begleitung und Evaluierung lässt sich sicherstellen, dass die Massnahmen eine Wirkung entfalten und fortlaufend verbessert werden können.

* Negative Gesundheitsverhalten umfassen in der verwendeten Definition: Rauchen, körperliche Inaktivität, kein Ernährungsbewusstsein und übermässiger Alkoholkonsum.

Cornel Kaufmann

Dr. Cornel Kaufmann ist Ökonom und Projektleiter bei Interface Politikstudien. Er ist Experte für empirische gesundheitsökonomische Analysen. Zudem ist er Lehrbeauftragter in Gesundheitsökonomie an der Universität Luzern.

Stefan Boes

Prof. Dr. Stefan Boes ist Professor für Gesundheitsökonomie am Department of Health Sciences and Health Policy und Direktor des Center for Health, Policy and Economics (CHPE) an der Universität Luzern.

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