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«Swissmedic abschaffen wäre eine Option»

Rudolf Blankart, Patrick Rohr, Urs P. Gasche
Marktversagen, Staatsversagen: Was hat zur Unterversorgung im Medikamentenmarkt geführt? Und wie lässt sich das Problem lösen? Journalist und Konsumentenschützer Urs P. Gasche und Rudolf Blankart, Professor für Regulierungsfragen im Gesundheitswesen und Mitglied im Komitee der Versorgungsinitiative, im Diskurs.

Urs P. Gasche, Journalist und Publizist

Rudolf Blankart, Professor für Regulierung im Gesundheitswesen

Patrick Rohr, Journalist und Moderator

15. Februar 2024

Meine Herren, was hat Ihrer Meinung nach zu der Versorgungskrise geführt, in der wir uns befinden?
Urs P. Gasche: Für mich als Ökonom ist es nicht nachvollziehbar, warum wir eine Versorgungskrise haben. In der Schweiz zahlen die Krankenkassen europaweit die mit Abstand höchsten Preise für Medikamente. Die Pharmaindustrie will Gewinne machen, sie verkauft ihre Medikamente doch dort, wo es am meisten Geld zu holen gibt?

Herr Blankart, haben Sie eine Antwort auf Herrn Gasches Unverständnis?
Rudolf Blankart: Für eine Roche zum Beispiel ist die Schweiz eine Rundungsdifferenz.

Das heisst, der Schweizer Markt ist zu uninte­ressant, weil zu klein?
Rudolf Blankart: Ja, im Endeffekt sind wir zu klein. Wenn ich als Firma ein innovatives Medikament habe, dann setze ich meine Ressourcen zuerst dafür ein, dass das Produkt in den USA auf den Markt kommt, wo es potenziell 350 Millionen Menschen nutzen können. Dann probiere ich, in Europa auf den Markt zu kommen. Und erst dann gehe ich vielleicht irgendwann auch mal noch in die Schweiz.
Urs P. Gasche: Das hat damit zu tun, dass die Schweiz abgeschottet ist. Provokativ gesagt: Warum brauchen wir eine Swissmedic, die nach der EMA, der Europäischen Arzneimittel-Agentur, noch einmal genau das Gleiche prüft, nur mit viel weniger Mitteln und folglich unsorgfältiger? Wenn wir die Empfehlungen der EMA für Europa übernehmen würden, wären wir nicht mehr so abgeschottet und folglich auch kein geschlossener Markt mehr.

Dann wären wir Teil des europäischen Markts und also wieder interessant?
Rudolf Blankart: Das wäre sicher eine Option: Die Swissmedic abschaffen und nur noch die Marktüberwachung aufrechterhalten.
Urs P. Gasche: Und da wären Sie dafür?
Rudolf Blankart: Das ist eine politische Entscheidung. Die Frage ist: Was will das Volk?
Urs P. Gasche: Das Volk wird nicht gefragt. Die Frage ist, was wollen Spezialisten, Ökonomen wie Sie? Würden Sie empfehlen, die Swissmedic ab­zuschaffen?
Rudolf Blankart: In Bezug auf die Patientensicherheit hat die Swissmedic immer wieder sehr rich­tige Entscheidungen gefällt, zum Beispiel in der Covid-
Krise, da wurde der Wirkstoff von Astra­Zeneca nicht zugelassen. Die Swissmedic hat gesagt, es fehle ihr die Datengrundlage, um zweifelsfrei sagen zu können, ob das Produkt auch tatsächlich sicher sei.

«Ein Markt würde voraussetzen, dass die Preise transparent sind. Aber das sind sie nicht.»

Urs P. Gasche

Also finden Sie, dass es den zusätzlichen Schutz einer Schweizer Behörde braucht?
Rudolf Blankart: Die Frage ist, wie autark man sein will.

Autarkie zum Preis, dass die Schweiz als kleiner Markt zu wenig interessant ist und wir darum jetzt in diese Versorgungs­krise geraten sind?
Rudolf Blankart: Genau! Aber man müsste halt andere Massnahmen ergreifen, um ein Medikament in die Schweiz zu bekommen. Nehmen wir als Beispiel ein Antibiotikum, das in der Schweiz nicht auf dem Markt, in der EU aber zugelassen ist. Dann kaufen die Schweizer Spitäler es halt einfach in Deutschland, Frankreich oder Italien ein und geben es an die Patienten ab, die es brauchen.

Das ist nicht ganz im Sinne des Erfinders …
Urs P. Gasche: Wären Sie dafür, dass Ärzte, Spitäler und Krankenkassen Medikamente frei vom Ausland importieren können?
Rudolf Blankart: Also erstens passiert es bereits. Und zweitens muss man aus ökonomischer Perspektive jeden Hürdenabbau begrüssen.
Urs P. Gasche: Dann wären Sie auch dafür, dass das Parallelimportverbot aufgehoben würde?
Rudolf Blankart: Ja.

Gut, darf ich mal bis hier zusammenfassen: Sie sagen, der Markt spielt insofern, als dass die Schweiz vernachlässigt wird, weil sie für den grossen Markt zu klein ist?
Rudolf Blankart: Genau.
Urs P. Gasche: Man kann bei den Medikamenten nicht von Markt reden! Ein Markt würde voraussetzen, dass Preise und Qualität transparent sind. Aber niemand weiss, welche Preise die Krankenkassen in Spanien, Holland oder Dänemark zahlen. Die Preise sind geheim. Auch in Bezug auf die Qualität gibt es keine Transparenz, denn Swissmedic und BAG halten ihre Einschätzungen zu Zweckmässigkeit und Wirksamkeit geheim. Das ist doch kein Markt!
Rudolf Blankart: Es ist ein hochregulierter Markt, bei dem die Anbieter sich gut überlegen, ob sie da verkaufen wollen oder nicht.

«Es ist ein hochregulierter Markt, bei dem sich die Anbieter gut überlegen, ob sie da verkaufen.»

Rudolf Blankart

Also wäre die Lösung, alle regulatorischen Hürden abzuschaffen und einen wirklich freien Markt zu gestalten?
Rudolf Blankart: Dann hätten wir auf jeden Fall andere Produkte auf dem Markt als jetzt.

Wäre dann auch die Schweiz wieder interessant?
Rudolf Blankart: Dann hätten wir einen internationalen Markt und nicht nur einen Schweizer Minimarkt.
Urs P. Gasche: Wir sind überreguliert! Die Medikamentenpreise sind überbürokratisiert, da kann man etliches deregulieren. Es bräuchte neue Regeln, einfachere, klarere.

Zum Beispiel?
Urs P. Gasche: Man müsste erstens Parallelimporte zulassen. Man könnte bei rezeptpflichtigen Medikamenten darauf verzichten, Beipackzettel in drei Sprachen zu übersetzen. Rezeptpflichtige Medikamente geben der Arzt oder das Spital ab und diese sagen den Patienten sowieso, wie sie die Medikamente einnehmen müssen. Anderes Beispiel: Für Generika ist vorgeschrieben, dass sie alle Packungsgrössen wie die Originale anbieten müssen. Warum?

Genau diese Punkte moniert auch der Verband der Generikahersteller. Es gebe zu viele regulatorische Hürden, die den Schweizer Markt uninteressant machen würden. Ist das der Grund, weshalb es auch bei den Generika eine Knappheit gibt?
Rudolf Blankart: Es gibt verschiedene Gründe, diese gehören sicher dazu. Dazu kommen noch die Lieferschwierigkeiten, denken Sie an den Suez­kanal, den Ukraine-Krieg …

Bis vor nicht allzu langer Zeit hatten wir eine Pharmaproduktion in Europa, auch in der Schweiz, doch die gibt es nicht mehr. Heute hängen wir von zwei Ländern ab, Indien und China. Warum ist es nicht gelungen, die Pharmaproduktion in der Nähe zu behalten?
Urs P. Gasche: Dass man essenzielle Medikamente in den USA oder Europa herstellen müsste, scheint mir sinnvoll, aber da appelliere ich an die Eigenverantwortung der Konzerne. Es braucht nicht immer gleich eine Regulierung.

Die Konzerne gehen dorthin, wo sie am günstigsten produzieren können. Herr Blankart, Sie sind im Initiativkomitee der Versorgungsinitia­tive, die unter anderem fordert, dass der Bund Massnahmen treffen soll, um die Herstellung von wichtigen Medikamenten in der Schweiz zu fördern.
Rudolf Blankart: Das muss nicht zwingend sein. Wichtiger ist eine Sicherung der Lieferketten. Dazu brauchen wir eine redundante Produktion, von mir aus in Chile, Paraguay, Indien und China. Das ist sicherer, als wenn ich nur in Luzern herstelle.

Warum?
Rudolf Blankart: Wenn in der Schweiz eine Fabrik ausfällt, haben wir das Klumpenrisiko hier. Jetzt haben wir es einfach in Indien und China.

Ist es nicht ein Staatsversagen, dass es so weit kommen konnte?
Rudolf Blankart: Die Frage ist: Ist es eine Staatsaufgabe, sich in die Produktionsketten der Pharmaindustrie zu mischen?

Das ist meine Frage.
Rudolf Blankart: Wenn man die Pharmaindustrie zu etwas verpflichten will, dann soll man sie verpflichten, redundant zu produzieren. Wo und wie sie das macht, das soll der Industrie überlassen sein.

Und wer verpflichtet sie dazu?
Rudolf Blankart: Am besten eine Staatengemeinschaft. Aber auch die Schweiz könnte sagen: Lieber Hersteller, wenn du in den Schweizer Markt willst, musst du eine redundante Produktion nachweisen.
Urs P. Gasche: Wenn ein Konzern ein Medikament nicht in die Schweiz bringt, weil der Markt zu unbedeutend ist, dann wird er solche Bedingungen wohl kaum akzeptieren.

Aber wenn die Schweiz als Teil einer Staatengemeinschaft …
Urs P. Gasche: … der EU zum Beispiel …

… genau, wenn die Schweiz als Teil der EU solche Bedingungen stellen würde, könnte es funktionieren?
Urs P. Gasche: Einfach mit der EMA. Die Redundanz muss nicht in Europa stattfinden, das kann rund um den Erdball sein. Man muss einfach Alternativen haben, wenn eine Quelle ausfällt.

Aber dann komme ich zum Schluss: Ohne Staat geht es nicht, denn die Industrie geht dorthin, wo sie am billigsten produzieren kann.
Rudolf Blankart: Für die Industrie muss sich das Businessmodell lohnen. Wir können darüber nachdenken, neue Vergütungsmodelle zu kreieren, zum Beispiel, indem man einen Hersteller dafür bezahlt, dass er ein bestimmtes Produkt immer verfügbar hält.

Interview: Patrick Rohr, Fotos: Ruben Holliger

Also die Schweiz würde einen Hersteller dafür bezahlen, dass sie ein bestimmtes Arzneimittel immer zur Verfügung hat?
Rudolf Blankart: Ja, das Businessmodell muss sich lohnen, damit hier wieder investiert wird, sonst ziehen sich immer mehr Firmen aus der Schweiz zurück. Und dann werden wir am Ende nur noch patentgeschützte, hochprofitable Produkte auf dem Schweizer Markt haben.

Also, dann darf ich Sie beide so zusammenfassen: Um die Versorgung sicherzustellen, müssten wir die Behörde Swissmedic abschaffen und uns einem grösseren Ganzen wie der EU anschliessen, und es bräuchte mehr Staatsinterventionen, vielleicht auch finanzieller Art?
Rudolf Blankart: Wäre das schon eine Staatsintervention? Wir regulieren die Preise doch ohnehin schon, einfach nur über den klassischen Preis-mal-Menge-Mechanismus. Das Gesundheitswesen, da gebe ich Herrn Gasche recht, ist eine Planwirtschaft, es ist kein freier Markt. Wir müssen mit Regulierung arbeiten, um eine soziale Gerechtigkeit hinzubekommen und um auch die Vulnerabelsten zu versorgen. Die Frage ist: Sind wir aus der Balance raus? Wollen wir die Prioritäten neu setzen?

Und wie beantworten Sie die Frage?
Rudolf Blankart: Es ist eine politische Frage. Alle Volksinitiativen, die in Richtung Qualität oder Kostensteuerung gegangen sind, wurden verloren. Ich sähe da auch eine Rolle für die Versicherer, die sind zu passiv, sie sind keine Vertreter der Versicherten.
Urs P. Gasche: Wir haben die teuerste Medikamentenversorgung in Europa und trotzdem haben wir Engpässe. Wir brauchen Reformen. Ich schlage vor, klein anzufangen. Herr Blankart, Sie haben gesagt, der Schweizer Markt sei zu klein, zu uninteressant. Für Generika ist er besonders klein, weil wir den tiefsten Generika-Anteil in ganz Europa haben. Warum? Weil die Kassen – das ist einzigartig in Europa – auch die teureren Medikamente zahlen müssen. Es sollte so sein, dass jeder Apotheker oder Arzt eines der drei günstigsten Generika verkaufen muss. Dann hätten wir immerhin schon mal den Markt für Generika ein bisschen vergrössert.

Urs P. Gasche

ist Journalist und Publizist. Von 1982 bis 1985 war er Chefredaktor der «Berner Zeitung» und von 1986 bis 1996 leitete er die SRF-Konsumentenschutz-Sendung «Kassensturz». Bis 2004 war er Mitherausgeber der Zeitschrift «K-Tipp». Seither ist er als freier Publizist tätig und arbeitet für die Internet-Zeitung «Infosperber», die er im Jahr 2011 lancierte.

Rudolf Blankart

ist Professor für Regulierung im Gesundheitswesen am Kompetenzzentrum für Public Management (KPM) an der Universität Bern und Director Regulation beim Swiss Institute for Translational and Entrepreneurial Medicine (sitem-insel). Er präsidiert den Round Table Antibiotika.

Patrick Rohr

ist Journalist, Moderator, Fotograf und Kommunikationsberater mit eigener Firma in Zürich. Bis 2007 arbeitete er für das Schweizer Fernsehen, unter anderem als Redaktor und Moderator der Sendungen Schweiz aktuell, Arena und Quer.

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