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«Viele Menschen möchten mit ihren Daten anderen helfen»

Patrick Rohr, Susanne Gedamke und Ernst Hafen
Warum sind viele Patientinnen und Patienten in der Schweiz skeptisch gegenüber einer Verwertung ihrer Gesundheitsdaten? Susanne Gedamke, Geschäftsführerin der Schweizerischen Patientenorganisation SPO, und der emeritierte Biologieprofessor Ernst Hafen, Präsident des Vereins Gesundheitsdatenraum Schweiz, im Diskurs.

Susanne Gedamke, Geschäftsführerin der Patientenorganisation SPO

Ernst Hafen, Präsident der Datenverwaltungsgenossenschaft Midata und des Vereins Gesundheitsdatenraum Schweiz,

Patrick Rohr, Journalist und Moderator

21. Oktober 2024

Frau Gedamke, Herr Hafen, würden Sie die Aussage unterschreiben, dass sich das Schweizer Gesundheitswesen im Unterschied zu vergleichbaren Ländern in einer digitalen Wüste befindet
Susanne Gedamke: Wir sind sehr weit zurück, vielleicht nicht gerade in der Steinzeit, aber irgendwo in der frühen Neuzeit.
Ernst Hafen: Ich sehe das auch so, wir sind sehr weit zurück. Aber ich sehe das als Chance.

Weil man auf der grünen Wiese, um eine andere Metapher zu verwenden, ganz viel machen kann
Ernst Hafen: Ja.

Aber wir haben in der Schweiz sehr viele Chancen verpasst in den letzten Jahren und Jahrzehnten?
Ernst Hafen: Wir haben unendlich viele Chancen verpasst! Dass das Parlament beim Elektronischen Patientendossier die doppelte Freizügigkeit beschlossen hat, die Widerstände der Ärzteschaft – das sind Probleme, die eine grosse Rolle spielen.

Und die nach wie vor grosse Skepsis der Patientinnen und Patienten?
Susanne Gedamke: Die gibt es vielleicht in Bezug auf bestimmte Themen wie Datenschutz, aber die Skepsis ist viel geringer, als wir denken. Die Patientinnen und Patienten sind bereit.

Ist das nicht etwas gar optimistisch? Eine repräsentative Umfrage von Deloitte aus dem Jahr 2022 zeigt, dass 45 Prozent der Befragten nicht bereit sind, ihre Gesundheitsdaten zu teilen. Und wenn, dann höchstens mit dem Arzt, aber nicht mit den Krankenversicherern und anderen Playern. Über 20 Prozent sind unentschieden, nur etwa 30 Prozent sind wirklich bereit.
Ernst Hafen: Es gibt andere, neuere Untersuchungen, die ein positiveres Bild zeigen. Aber der Grund, weshalb wir so weit zurück sind, ist: Die analoge Schweiz funktioniert verdammt gut. Wir haben keine Änderung nötig. Natürlich hört man hier und dort, dass es kompliziert ist, aber insgesamt kommt man in der Schweiz schnell zu seinem Arzttermin.

Interview: Patrick Rohr, Fotos: Daniel Brühlmann

Dann brauchen wir also auch keine neuen Möglichkeiten, um mit unseren Daten etwas zu tun?
Ernst Hafen: Doch, unbedingt! Die Algorithmen, die heute entwickelt werden, basieren auf amerikanischen Datensätzen, Schweizer Daten gibt es nicht. 2021 hat die amerikanische Arzneimittel­behörde FDA über 350 Algorithmen als medizinisch-diagnostische Tools zugelassen, kein einziges davon gibt es in der Schweiz. Und das ist erst der Anfang. Darum ist es zentral, dass wir verstehen, wie wichtig diese Daten sind. Und wie wichtig der Zugang zu diesen Daten ist.

Die Frage ist nur: für wen? Für die Patienten, die Forschung, die Industrie?
Susanne Gedamke: Aus meiner Sicht müssten die Patienten am Anfang stehen, es braucht einen klaren Nutzen für sie. Das kann auch damit einhergehen, dass Patienten ihre Daten für die Forschung freigeben können. Ich bin überzeugt, dass es sehr viele Menschen gibt, die mit ihren Daten anderen helfen möchten, um damit die Forschung und die Produkte zu verbessern. Aber in erster Linie muss das Dossier für die Patienten nutzbringend sein. Es ist wichtig, dass ich als Patientin an meine Daten komme und sie selbst verwalten kann, möglichst an einem einzigen Ort. Das ist mein Hauptanliegen.

Diesen Ort gäbe es ja bereits, mit dem Elektronischen Patientendossier, dem EPD. Doch dieses wird sehr zurückhaltend genutzt. Warum?
Susanne Gedamke: Ich glaube, dass die meisten Menschen den direkten Nutzen noch zu wenig sehen. Ich finde die jetzige Version mit der PDF-Sammlung nicht so schlecht wie ihr Ruf, sie ist immerhin besser, als gar keine Daten zu haben. Selbstverständlich hat es Konstruktionsfehler, aber ich bin zu 100 Prozent der Meinung, dass es ein digitales Patientendossier braucht.

Ein Grossteil der Menschen in unserem Land ist aber offenbar nicht so überzeugt wie Sie, sonst hätten schon viel mehr Menschen ein EPD eröffnet. Woran liegt das?
Susanne Gedamke: Sicher an der mangelnden Information. Viele Menschen wissen noch gar nicht, dass es das EPD gibt. Bei der SPO werden wir häufig gefragt: Was, das gibt es schon? Kommt dazu, dass 90 Prozent der Spezialisten, die Langzeitpatienten behandeln, noch nicht ans EPD angeschlossen sind. Da fragen sich die Patienten zu Recht, warum denn sie es nutzen sollten.

«Ich glaube, dass die meisten Menschen den direkten Nutzen des EPD noch zu wenig sehen.»

Susanne Gedamke

Also haben wir sowohl auf Patienten- als auch auf Ärztinnenseite ein Problem?
Ernst Hafen: Absolut. Auch die Ärzte sehen den Nutzen nicht: Sie müssen eine Schulung machen, nur um dann zu merken, dass das EPD gar nicht in ihr Patienteninformationssystem integriert ist.

Was wäre der Nutzen für die Patientinnen und Patienten?
Ernst Hafen: Nehmen wir das E-Banking. Dessen Nutzen ist offensichtlich: Sie haben die Kontrolle über Ihre Daten, Sie entscheiden, wofür Sie Ihr Geld ausgeben. Wir brauchen also eine Art E-Banking für unsere Gesundheitsdaten: ein Konto, bei dem Sie die Kontrolle über alle Daten haben, ob die von einer Smartwatch kommen oder von Ihrem Arzt. Und Sie entscheiden, was Sie mit diesen Daten tun.

Das ist auch die Forderung des Vereins Gesundheitsdatenraum Schweiz, dessen Präsident Sie sind. Nur: Denken Sie, dass wir bei etwas so Komplexem wie dem Gesundheitswesen imstande sind, unsere Daten selbst zu verwalten? Bei der Bank ist es relativ einfach, da kommt Geld rein und es geht wieder raus. Punkt. Bei Gesundheitsdaten ist das viel komplexer.
Ernst Hafen: Wahrscheinlich werden das tatsächlich nicht alle können. Aber wie im Finanzsektor, wird es auch im Gesundheitssektor Berater geben, an die ich die Verwaltung meines Vermögens delegieren kann.

Begrüsst die SPO so etwas?
Susanne Gedamke: Auf jeden Fall. Aber Sie sprechen ein grundsätzliches Problem an: dass wir die Gesundheitsdaten nicht verstehen. Das hat nichts mit der Digitalisierung zu tun. Wir haben eine riesige Kommunikationsbarriere zwischen der Fachsprache und der Sprache der Betroffenen. Das ist ein grundsätzliches Problem, das durch begleitende Dienste verbessert werden kann. Denn nur, wenn ich alles verstehe, habe ich als Patientin auch Entscheidungsmöglichkeiten.

Wo sollen denn alle diese Daten gespeichert werden, wer ist die Bank?
Ernst Hafen: Eine private Cloud, die in der Schweiz gehostet wird. Darüber hinaus bräuchte es eine nationale Aufsicht, eine Behörde, eine Art Finma für Gesundheitsdaten.

Wobei gerade die Abstimmung über die E-ID im Jahr 2021 gezeigt hat, dass die Menschen offenbar ein grosses Misstrauen gegenüber Privaten haben und dem Staat mehr vertrauen würden.
Susanne Gedamke: Ja, trotzdem muss nicht unbedingt eine staatliche Organisation selbst der Anbieter sein. Wir haben ja in der Pandemie gesehen, dass Kommunikation und Produktentwicklung nicht gerade zu den Stärken des Bundes gehören. Aber die Kontrollfunktion müsste auf jeden Fall der Staat haben und die Organisation muss unabhängig und nicht kommerziell orientiert sein.

Reden wir von nur einer Organisation oder schweben Ihnen verschiedene Anbieter vor?
Ernst Hafen: Mein Traumszenario wäre, dass unsere bundesnahen Betriebe, also SBB, Post und Swisscom, das gemeinsam bauen. Und der Staat sagt, was die Rahmenbedingungen sind. Das Business kommt dann mit den Services, wie in der Finanzindustrie. Die verdient ihr Geld nicht mit den Bankkonten, sondern mit den Financial Services.

Also gäbe es wieder einen neuen Markt mit neuen Begehrlichkeiten. Wie soll ich denn noch die Kontrolle darüber haben, wer auf meine Daten zugreift?
Ernst Hafen: Entscheidend ist die Transparenz. Ich muss selbst bestimmen können, wer auf meine Daten zugreifen darf. Das kann temporär sein, für eine Studie oder für einen Arztbesuch, oder generell.

Gerade kürzlich musste ich bei einem Medienanbieter online bestätigen, welche Cookies und Tracker ich zulassen möchte. Ich hätte 450-mal einen Schieber betätigen müssen. Das wird bei den Gesundheitsdaten wohl nicht einfacher.
Susanne Gedamke: Das Problem gibt es auch in der analogen Welt. Kürzlich hatte eine Klientin von uns den Verdacht, dass sie im Spital ohne ihr Wissen an einer Studie teilgenommen haben könnte. Es zeigte sich dann, dass sie einen ganzen Stapel Papier unterschrieben und wohl den Überblick verloren hatte, wofür sie alles die Zustimmung gegeben hatte.
Ernst Hafen: Als die EU die Datenschutz-Grundverordnung eingeführt und die Schweiz sie nachvollzogen hatte, waren alle glücklich. Jetzt sehen wir die Konsequenzen: Alle Anbieter müssen für alles eine Bewilligung einholen. Und was tun wir, weil wir überfordert sind? Wir drücken einfach «accept all» und schon sind wir noch viel mehr überwacht als früher. Bei klinischen Daten ist es anders: Da braucht es explizit immer einen «informed consent».

«Wir müssen verstehen, wie wichtig Schweizer Gesundheitsdaten sind.»

Ernst Hafen

Heute, wo meine Daten in verschiedenen Silos lagern, kann ich vielleicht einmal bei einer Unsicherheit wegen des gleichen Problems zu einem zweiten Arzt gehen. In Zukunft ginge das nicht mehr.
Ernst Hafen: Heute haben wir aber auch keine Qualitätskontrolle. Die hochwertigsten Daten sind die Abrechnungsdaten, welche die Krankenversicherungen sammeln. Die schauen aufgrund der Abrechnung, wie viele MRI ein Orthopäde macht, aber das sagt nichts aus über die Qualität seiner Operationen. Wenn künftig die Anzahl der Schritte, die ich mache, automatisch in mein Dossier aufgenommen wird, kann man sehr schnell nachvollziehen, ob eine Hüftoperation erfolgreich war oder nicht.

Was denken Sie, wie lange dauert es noch, bis wir den Sprung von der frühen Neuzeit ins Hier und Jetzt schaffen?
Susanne Gedamke: In Jahren oder Jahrzehnten? Ich glaube, es muss uns noch etwas schlechter gehen, bis etwas passiert. Der Druck muss noch zunehmen, das sehen wir ja auch bei der Prämiendiskussion: Es muss uns etwas richtig wehtun, bevor wir etwas ändern. Schön wäre, wenn die Veränderung bottom-up passieren würde. Dass also nicht Fachpersonen die Struktur bestimmen, sondern die Bevölkerung.

Die SPO könnte eine basisdemokratische Bewegung starten.
Susanne Gedamke: Die gibt es ja schon – mit dem Gesundheitsdatenraum Schweiz.

Hat der denn die nötige breite Basis?
Ernst Hafen: Nein, aber genau darum machen wir jetzt auch eine Expedition. Man geht ja nicht gleich mit der halben Bevölkerung in den Weltraum, um zu schauen, ob man auf dem Mars landen kann. Zuerst schickt man Astronauten, die sehr motiviert sind und bereit, ein Risiko auf sich zu nehmen. Genauso machen es auch wir: Wir starten mit einem kleinen Team von Salutonauten, wie wir sie nennen, und die fordern ihre Daten ein und schauen, wo sie diese am besten ablegen, im EPD oder in einem privaten Konto. In einem Logbuch notieren sie, wie lange es gegangen ist, bis sie von ihrer Krankenversicherung alle Daten bekommen haben und so weiter. Wir sind im Januar gestartet und haben jetzt 50 Salutonauten, die bereits viel bewegt haben. Bis nächstes Jahr werden es 500 sein. Ich habe ein neues Businessmodell, es heisst Su­shi gegen EPD: Ich biete Influencern im Gesundheitswesen an, ihnen dabei zu helfen, das EPD zu eröffnen. Sie spendieren im Gegenzug ein Sushi-Essen. So entsteht eine Bewegung.

Wie viel Zeit geben Sie sich?
Ernst Hafen: Wir haben in den Statuten unseres Vereins festgelegt, dass es ihn fünf Jahre geben wird, also bis 2027. Dann lösen wir ihn auf. Aber bis dahin werden wir den Anstoss gegeben und auch SBB, Post und Swisscom so weit gebracht haben, die Basisinfrastruktur zu bauen.

Das gibt noch viele Essen.
Ernst Hafen: Zum Glück habe ich Sushi sehr gern! 

Susanne Gedamke

ist seit 2020 Geschäftsführerin der Schweizerischen Patientenorganisation SPO. Davor hat die Kommunikationswissenschaftlerin und Psychologin für verschiedene Akteure im Gesundheitswesen gearbeitet, unter anderem für die Gesundheitsdepartemente der Kantone Aargau und Bern.

Ernst Hafen

ist emeritierter Professor am Departement Biologie der ETH Zürich. Er studierte Molekular und Zellbiologie und promovierte in Entwicklungsbiologie. Seit 2012 engagiert sich Hafen für Daten-Genossenschaften, in denen persönliche Daten gespeichert und gemeinsam genutzt werden können.

Patrick Rohr

ist Journalist, Moderator, Fotograf und Kommunikationsberater mit eigener Firma in Zürich. Bis 2007 arbeitete er für das Schweizer Fernsehen, unter anderem als Redaktor und Moderator der Sendungen Schweiz aktuell, Arena und Quer.

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