Unterschiede verstehen, Qualität sichern
Der Versorgungsatlas des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums Obsan1 hat das Potenzial, einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der medizinischen Versorgung in der Schweiz zu leisten. Der Atlas dokumentiert und visualisiert regionale Unterschiede in der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, wie Hospitalisierungen, Medikamentenbezüge, chirurgische Eingriffe sowie diagnostische und bildgebende Verfahren. Ausserdem kann für jeden Kanton bzw. jede Versorgungsregion ein Verlauf der Werte über die letzten Jahre dargestellt werden.
Vermessene Versorgung?
Fehlende Transparenz, unklare Steuerung, unterschiedliche Perspektiven: Wie können wir Qualität in unserem Gesundheitssystem messen?
Grosse regionale Versorgungsunterschiede
Der Versorgungsatlas weist auf teilweise grosse regionale Unterschiede bezüglich Häufigkeiten von Hospitalisierungen, Medikamentenbezügen, chirurgischen Eingriffen sowie diagnostischen und bildgebenden Verfahren hin. Beispielsweise wurden im Jahr 2022 bei Einwohnerinnen und Einwohnern des Kantons mit der höchsten Rate …
… Koronarangioplastien, Eingriffe zu Erweiterungen verengter Herzkranzgefässe mittels eines Ballons, zweimal so häufig eingesetzt …
… transurethrale Prostatektomien, Teilentfernungen der Prostata über die Harnröhre, zweieinhalbmal so häufig durchgeführt …
… Benzodiazepine, eine wichtige Gruppe von Schlaf- und Beruhigungsmitteln, viermal so häufig eingesetzt …
… Antibiotika zweieinhalbmal so häufig eingesetzt …
wie bei Einwohnerinnen und Einwohnern des Kantons mit der tiefsten Rate.
Hinweise auf Verbesserungspotenzial
Solche regionalen Abweichungen können ein Indiz für Unterschiede in der Versorgungsqualität sein.2 Das Wissen dazu ist in der Schweiz aber sehr lückenhaft. Die Webseite des Versorgungsatlas beinhaltet zwar eine Übersichtsdarstellung zu generellen Ursachenkategorien regionaler Unterschiede (siehe Grafik Folgeseite), detaillierte Studien zu einzelnen Versorgungsaspekten sind aber selten. So könnte die unterschiedliche Häufigkeit transurethraler Prostatektomien laut einer 2021 veröffentlichten Arbeit mit abweichenden Kommunikationsstilen zwischen Ärztinnen und Ärzten und ihren Patienten zusammenhängen.3 Ein Bericht der Eidgenössischen Finanzkontrolle weist auf ein «liberales Umfeld» als Ursache der Unterschiede bei der Anwendung von Bildgebungsverfahren hin. Deren Einsatz sei im Krankenversicherungsgesetz praktisch nicht geregelt und unzureichend kontrolliert.4 Die Qualität der Verschreibungen und die Rechtfertigung bildgebender Untersuchungen würden zwar teilweise in Audits überprüft, die Umsetzung der daraus resultierenden Empfehlungen wird aber nicht systematisch kontrolliert. In unseren eigenen Arbeiten fanden wir ebenfalls Hinweise auf viele Freiheitsgrade bei der Ausgestaltung des Versorgungsangebots und ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Ursachenkategorien. So geht die unterschiedliche Verschreibungsrate für gewisse Schlaf- und Beruhigungsmittel vermutlich auf Unterschiede der Kultur und der Dichte ambulanter Versorgungszugänge zwischen den Landesteilen zurück. Auch hier könnten also Qualitätsunterschiede in der Versorgung vorliegen.5
Neuer Dialog
Eine wichtige Erkenntnis aus unseren Abklärungen war, dass es selten einfache Erklärungen für die festgestellten regionalen Versorgungsunterschiede gibt. Pauschale Schuldzuweisungen, wie zum Beispiel jene, dass Ärztinnen und Ärzte aus finanziellen Überlegungen unnötige Eingriffe durchführen würden, führen nicht weiter. Wenn die Gesundheitsversorgung optimiert werden soll, indem Über- und Unterversorgung vermieden werden, braucht es in erster Linie den Dialog zwischen medizinischen Fachgesellschaften, Kantonen, Versicherern und der Bevölkerung, um den Ursachen für die Unterschiede gemeinsam nachzugehen.
Dieser Dialog fehlte bisher: Die grosse Mehrheit der von uns interviewten Vertretenden der medizinischen Fachgesellschaften und Kantone erwähnte, zu diesem Thema in keinem oder einem nur eingeschränkten Austausch mit der anderen Gruppe zu stehen. Die Kontaktpunkte seien häufig fokussiert auf Auseinandersetzungen über Tarifstrukturen und Kosten, was vielmehr ein «Gegeneinander» als ein «Miteinander» sei und zu einer Stimmung des Misstrauens geführt habe.
Wir haben den Ball aufgenommen und haben einen Dialog lanciert. Mit Vertretenden der Ärzteschaft und der kantonalen Gesundheitsbehörden haben wir in Gesprächsrunden über die Bedeutung, den Handlungsbedarf und mögliche Massnahmen zur Reduktion regionaler Versorgungsunterschiede diskutiert. Zusätzlich haben wir die Bevölkerung involviert – in Gesprächsrunden mit Menschen aus allen Landes- und Bevölkerungsteilen haben wir über die Bedeutung und die Erwartungen an den Versorgungsatlas diskutiert.
Ein Weg vom Versorgungsatlas zur Qualitätsverbesserung

Bisherige Ergebnisse und Ausblick
Das bisherige Engagement und die vorläufigen Ergebnisse des Dialogs sind vielversprechend. Die Bereitschaft ist in allen Gruppen gross, über die Relevanz regionaler Unterschiede, das Vorgehen zur Ursachensuche und mögliche Massnahmen zu sprechen. Ein Aspekt wurde in den Gesprächsrunden immer wieder hervorgehoben: Transparenz. Die Hintergründe der im Versorgungsatlas abgebildeten regionalen Unterschiede sollen aufgeklärt werden. Auch sollen Möglichkeiten geschaffen werden, überprüfen zu können, ob ein Zusammenhang zwischen der Quantität von Hospitalisierungen, Bezügen, Eingriffen oder Verfahren und deren Qualität besteht. Der Versorgungsatlas könnte so ein wichtiger Ausgangspunkt für die Entwicklung von Massnahmen werden, die zu einer Verbesserung der Versorgungsqualität führen. Im Herbst 2025 bringen wir Ärztinnen und Ärzte, Kantonsvertretende und Mitglieder der Bevölkerung – ergänzt mit Vertretenden von Krankenversicherungen und Forschung – in einer Veranstaltung zusammen. Ziel ist es, gemeinsam einen Aktionsplan zu erarbeiten, der aufzeigt, wer welche Schritte unternehmen soll, damit die Ursachen wichtiger regionaler Versorgungsunterschiede geklärt und Massnahmen zur Steigerung der Qualität und der Effizienz der Gesundheitsversorgung ergriffen werden.
Ob die Reduktion von unerwünschten Versorgungsunterschieden, wie sie der renommierte amerikanische Versorgungsforscher John Wennberg forderte, je zu einer «Priorität der Leistungserbringer» wird, wissen wir nicht.6 Aber wir können sie und die weiteren Stakeholder unterstützen, den Weg dorthin einzuschlagen.
Offenlegung der Finanzierungsquellen
Interface Politikstudien Forschung Beratung kann die erwähnten Arbeiten dank finanzieller Unterstützung durch die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW), die Eidgenössische Qualitätskommission (EQK) und die Kantone Luzern, Schwyz und St. Gallen durchführen.
Quellen:
1 www.versorgungsatlas.ch
2 Wennberg J. (2011): Time to tackle unwarranted variations in practice. BMJ 342, d1513.
3 Wertli M., Zumbrunn B., Weber P. et al. (2021): High regional variation in prostate surgery for benign prostatic hyperplasia in Switzerland. PloS One 16(7), e0254143.
4 Eidgenössische Finanzkontrolle (2025): Evaluation der Mechanismen zur angemessenen Verwendung
bildgebender Verfahren in der Medizin.
5 Essig S., Rickenbacher J., Brun N., Balthasar A. (2025): Regionale Unterschiede im schweizerischen Versorgungsatlas – was nun? Eine Interpretationshilfe für ausgewählte Indikatoren. Interface Politikstudien Forschung Beratung, Luzern.
6 Wennberg J. (2011): Time to tackle unwarranted variations in practice. BMJ 342, d1513.