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Sparpotenzial in Milliardenhöhe

Ineffizienzen im Gesundheitswesen
Das Effizienzpotenzial ist gross: Im Schweizer ­Gesundheitswesen könnten 7 bis 8 Milliarden Franken pro Jahr gespart werden – ohne Abstriche bei der Versorgung. Wo entstehen unnötige Kosten und welche Rolle spielt der Leistungskatalog?

Judith Trageser, Bereichsleiterin und Partnerin bei INFRAS

Thomas von Stokar, Geschäftsleiter und Partner bei INFRAS

17. Juni 2024

Beachtliche Einsparpotenziale liegen im schweizerischen Gesundheitswesen brach: Würde man Ineffizienzen beseitigen, lies­sen sich 16 bis 19 Prozent der Kosten KVG-pflichtiger Leistungen1 einsparen. Das zeigt die Studie, die das Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie WIG und INFRAS erarbeitet haben. Konkret würde dies bedeuten: Zwischen 7 und 8 Milliarden Franken jährlich liessen sich einsparen. Pro Kopf entspräche dies rund 850 bis 1000 Franken pro Jahr.

Fehlanreize und zu hohe Preise

Ineffizienzen ziehen sich durch alle Leistungsbereiche des Gesundheitswesens. Die absolut grössten Sparpotenziale finden sich bei somatischen Akutbehandlungen im Spital auf Station (rund 2 Milliarden Franken) und ambulant (rund 1 Milliarde Franken), bei ambulanten ärztlichen Behandlungen (rund 1,5 Milliarden Franken) und bei ambulant verschreibungspflichtigen Medikamenten (rund 1 Milliarde Franken). Auch bei der ambulanten Radiologie und bei Laboranalysen werden viele unnötige Leistungen erbracht, auch wenn dies kleinere Kostenblöcke im Gesundheitswesen sind.

1.5 Mrd. Bei den ambulanten ärztlichen Behandlungen
beträgt das Sparpotenzial 1,5 Milliarden Franken.

Grundsätzlich gibt es im Gesundheitswesen mengen- und preisbedingte Ineffizienzen. Mengenbedingte Ineffizienzen bedeuten, dass die gleiche Gesundheit bei weniger Leistungen möglich wäre. Bei preisbedingten Ineffizienzen ist der Preis zu hoch angesetzt und die Leistungen werden zu teuer erbracht. Beispielsweise finden sich in der noch geltenden Tarifstruktur für ärztliche ambulante Leistungen (TARMED) einige überhöhte Tarife. Dies ist vor allem bei stark technischen Leistungen in der Ophthalmologie, Chirurgie oder Radiologie der Fall. Dank technischem Fortschritt können solche Leistungen inzwischen günstiger erbracht werden.

Fehlanreize finden sich sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite. So haben ambulante Leistungserbringer im schweizerischen Gesundheitssystem einen finanziellen Anreiz, die Leistungsmenge auszuweiten, selbst wenn kein Zusatznutzen für die Patientin oder den Patienten zu erwarten ist. Denn jede Leistung verbessert so den Ertrag oder das Einkommen des Leistungs­erbringers. Patientinnen und Patienten verfügen nicht über genügend Informationen, um den Mehrwert der Leistungen einschätzen zu können. Demgegenüber haben Patientinnen und Patienten jedoch auch Anreize, eine möglichst umfangreiche Versorgung einzufordern: Insbesondere dann, wenn die Leistungen ab Überschreiten der gewählten Franchise sowieso von der Krankenversicherung gedeckt sind (sog. Moral-Hazard-Phänomen).

2 Mrd. Die absolut grössten Sparpotenziale finden sich bei somatischen Akutbehandlungen im Spital auf Station mit 2 Milliarden Franken.

Viele Ineffizienzen sind hausgemacht – sie werden durch schweizerische Eigenheiten begünstigt: Kleine Versorgungsräume und der Föderalismus führen tendenziell zu vielen kleinen Spitälern. Dadurch werden mögliche Grössenvorteile nicht genutzt: Grössere Spitäler können z. B. bessere Konditionen bei der Beschaffung durchsetzen. Eine weitere Ursache von Ineffizienzen ist der teils schlechte Informationsaustausch zwischen Ärz­tinnen und Ärzten in verschiedenen Leistungs­bereichen. Dadurch kommt es zu doppelt erbrachten Leistungen, z. B. Laboranalysen. Schätzungen gehen von rund 10 Prozent doppelt durchgeführten Labortests aus.

Ausmisten des Leistungskatalogs

Der Leistungskatalog in der Schweiz ist umfangreich und beinhaltet auch Ineffizienzen. Obschon das KVG prinzipiell verlangt, dass ärztliche Leistungen und Güter dahingehend überprüft werden, dass sie die Kriterien der Wirksamkeit, Zweck­mässigkeit und Wirtschaftlichkeit (WZW) erfüllen. Trotzdem werden in der Schweiz Leistungen vergütet, die nachweislich keinen oder einen unverhältnismässig kleinen Nutzen stiften.

Die Einsparpotenziale im Leistungskatalog sind hoch: Würde man «Low Value»-Leistungen eliminieren, könnten mindestens eine halbe Milliarde Franken ohne Qualitätseinbussen gespart werden. Dies entspricht rund 1,5 Prozent der gesamten Kosten der KVG-pflichtigen Leistungen. Ausgangspunkt für diese Schätzung bilden 63 Leistungen, die von der OKP vergütet werden, aber in wissenschaftlichen in- und ausländischen Studien als unwirksam identifiziert wurden. Ein Beispiel sind Opiate, die bei Migräne verabreicht werden. Es gibt jedoch wirksamere, speziell für Migräne geeignete Behandlungen. Zudem kann ein häufiger Gebrauch von Opiaten die Kopfschmerzen verschlimmern. Würden Ärztinnen und Ärzte auf Opiate als erste Wahl verzichten, könnten rund 6 Millionen Franken gespart werden.

Im Rahmen der Kampagne «smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland» geben inzwischen mehr und mehr medizinische Fachgesellschaften Top-5-Listen heraus, die aktuell insgesamt 150 medizinische Massnahmen enthalten, auf die verzichtet werden könnte.

Mögliche Lösungen

Ideen zur Bekämpfung der Ineffizienzen gibt es viele. So hat eine Expertengruppe, die vom Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) eingesetzt wurde, im Jahr 2017 38 Vorschläge für Massnahmen ausgearbeitet. Der Bundesrat nahm einen Teil davon in seine beiden Kostendämpfungspa­kete auf. Die Umsetzung solcher Ideen scheitert aber oft an gegenläufigen Partikularinteressen.

Mit Blick auf die Ineffizienzen im Leistungs­katalog leistet die «smarter medicine»-Initiative einen wertvollen Beitrag. Mit den Top-5-Listen wird «Low Value Care» in der Schweiz reduziert. Darüber hinaus könnte der Bund die bereits vorhandenen, gesetzlich verankerten Instrumente besser nutzen: Das EDI müsste die WZW-Überprüfungen verstärken, um mehr unnötige Leistungen aus dem Katalog zu streichen. Dazu müsste es konsequenter sogenannte Health Technology Assessments (HTAs) durchführen.

Ideal wäre vor allem ein grundsätzliches Umdenken: Das Gesundheitssystem müsste konsequent nach dem «Value Based Health Care»-Ansatz ausgerichtet werden. Bei diesem orientiert sich die Vergütung einer Behandlung nicht an der Leistung, sondern am Nutzen für die Patien­t­innen und Patienten. 

1Dies sind Leistungen, die in den Anwendungsbereich des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) fallen. Die Kosten werden durch verschiedene Träger finanziert: Obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP), Kantone, Gemeinden, Versicherte in Form von Out-of-pocket-Ausgaben und andere Sozialversicherungen.

Judith Trageser

ist Ökonomin und Bereichsleiterin sowie Partnerin beim Forschungs- und Beratungsunternehmen INFRAS. Sie ist Expertin für gesundheitsökonomische Analysen sowie Policy-Analysen und Evaluationen in den Themenfeldern Gesundheitspolitik und Public Health.

Thomas von Stokar

ist dipl. Sozial- und Wirtschaftsgeograf und Geschäftsleiter und Partner bei INFRAS. Er ist Experte für soziale und ökonomische Wirkungsanalysen, Policy-Analysen und Evaluationen in der Gesundheitspolitik.

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