Smarter medicine, ein Praxisbeispiel
Einem Arzt, der nichts verschreibt, zürnen die Kranken. Sie glauben, sie seien von ihm aufgegeben», stellte schon der antike griechische Philosoph und Arzt Epiktet fest. Mit diesem Problem sind erst recht die heutigen Ärzte konfrontiert. Angesichts des rasanten technischen Fortschritts in der Medizin herrscht bei vielen betroffenen Patienten die Überzeugung vor, dass sämtliche verfügbaren Diagnostik- und Behandlungsmethoden zur Anwendung gebracht werden müssen. Die Frage, ob diese Methoden etwas bringen und was sie nützen, wird oftmals nicht gestellt.
Die Pflichtleistungen im KVG
Das Vertrauensprinzip bildet die Basis aller medizinischen Behandlungen. Der Gesetzgeber vertraut darauf, dass nur diejenigen Leistungen ausgeführt werden, die letztlich auch Wirkung zeigen.
Listen mit unnötigen Behandlungen
Vor ein paar Jahren wurden in den USA Stimmen laut, welche vor den Auswirkungen der medizinischen Überversorgung («Overuse») warnten. 2011 lancierten Ärztinnen und Ärzte die «Choosing Wisely»-Initiative. Ziel dieser Initiative ist es, nicht nur «kluge Entscheidungen » herbeizuführen, sondern auch die offene Diskussion zwischen Ärzteschaft, den Patienten und der Öffentlichkeit zu fördern.
Kernstück von «Choosing Wisely» sind sogenannte «Top-5-Listen» aus jeder klinischen Fachdisziplin. Diese Top-5-Listen enthalten je fünf medizinische Massnahmen, die in der Regel unnötig sind. Das heisst: Ärzte und Patienten sollten miteinander darüber reden, ob nicht besser auf eine Behandlung verzichtet werden kann, weil die damit verbundenen Risiken potenziell grösser sind als der Nutzen.
Smarter medicine für die Schweiz
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat die «Choosing Wisely»- Initiative in ihrer Roadmap «Nachhaltiges Gesundheitssystem » propagiert. Bei der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM) stiess dieses Anliegen ebenfalls auf grosses Interesse. Eine Kommission machte sich in der Folge daran, eine eigene Top-5-Liste für den ambulanten Bereich in der Schweiz auszuarbeiten, und stellte diese 2014 unter dem Namen «smarter medicine» der Öffentlichkeit vor.
Kritisch beurteilte die SGAIM-Kommission zum Beispiel Röntgenaufnahmen bei unspezifischen Schmerzen, aufwendige Tests ohne klaren Nutzen und Verabreichung von Antibiotika bei unkomplizierten Infekten. Zwei Jahre später folgte eine Liste für den Spitalbereich. Die SGAIM empfiehlt unter anderem, auf routinemässige Blutentnahmen, Transfusionen, die Verabreichung von Schlafmitteln und das Einlegen von Dauerkathetern zu verzichten.
«Infektionen ausgelöst durch Katheter sind die häufigsten Krankenhausinfektionen.»
Ausweitung der Initiative
Auf Veranlassung der SAMW haben in der Zwischenzeit weitere medizinische Fachgesellschaften die Übernahme der US-amerikanischen Empfehlungen für die Schweiz geprüft und beschlossen. Die entsprechenden Listen werden 2017 veröffentlicht, zusammen mit Erläuterungen in patientenverständlicher Sprache.
Die «smarter medicine»-Kampagne hat in der Schweiz – im Gegensatz zu anderen Ländern – noch nicht richtig Fuss gefasst. Das liegt wohl daran, dass es bisher lediglich einzelne Aktivitäten gab, und dies zudem nur in grösseren zeitlichen Abständen. Deshalb ist geplant, eine breit abgestützte Trägerschaft zu gründen, die die «smarter medicine»-Kampagne kontinuierlich begleitet, unterstützt und bekannt macht.
Die Diskussion über unnötige Behandlungen soll nicht nur im Sprechzimmer oder am Spitalbett stattfinden. Es braucht eine öffentliche Auseinandersetzung über die Frage, mit wie viel Medizin das Wohl des Patienten und damit seine Lebensqualität am besten gefördert werden.