«Qualität ist noch nicht überall in der DNA verankert»
Wie beurteilen Sie die Qualität des Schweizer Gesundheitswesens im Moment?
Dominique Froidevaux: Wir stehen insgesamt sehr gut da. Die Lebenserwartung gehört zu den höchsten weltweit. Unser Sozialsystem stellt sicher, dass alle im Land Zugang zu einer hochwertigen medizinischen Versorgung haben. Unsere Fachpersonen sind hervorragend ausgebildet, die Wartezeiten sind kurz. Allerdings ist es unerlässlich, alles daranzusetzen, dieses hohe Niveau auch in Zukunft halten zu können. Denn: Qualität ist kein Selbstläufer.
Michael Jordi: Dem stimme ich zu. Wir bewegen uns auf einem sehr hohen Niveau, was auch Befragungen der Bevölkerung zeigen. Besonders geschätzt wird die medizinische und pflegerische Betreuung. Trotzdem dürfen wir uns nicht zurücklehnen. Verbesserungen sind fast in allen Bereichen nötig, von der standardisierten Qualitätsmessung bis zum Einbezug der Patientinnen und Patienten.
Vermessene Versorgung?
Fehlende Transparenz, unklare Steuerung, unterschiedliche Perspektiven: Wie können wir Qualität in unserem Gesundheitssystem messen?
Auch die Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Ständerats hat kürzlich ihre Sorge um die Qualität im Gesundheitswesen geäussert. Sie sprach von mehreren Hundert Patientinnen und Patienten, die jährlich Opfer von Qualitätsmängeln werden, und übte Kritik an der Eidgenössischen Qualitätskommission (EQK). Herr Jordi, wie ordnen Sie das ein?
Jordi: Die Kritik richtet sich vor allem auf drei Punkte: Erstens gibt es zahlreiche Aktivitäten zur Qualitätsförderung, die zu wenig koordiniert sind. Zweitens ist das Tempo von Verbesserungen und die Umsetzung gesetzlicher Vorgaben – Stichwort Qualitätsverträge – unbefriedigend. Drittens fehlt eine klare Übersicht über die relevanten Daten, die für eine wirksame Steuerung nötig wären. Diese Einschätzung deckt sich durchaus mit meinem Eindruck.
Froidevaux: Wir müssen mittelfristig ein Set an aussagekräftigen und international vergleichbaren Qualitätsindikatoren entwickeln. Nur so können wir das Verbesserungspotenzial erkennen und gezielt Massnahmen ergreifen. Mich interessiert beispielsweise: Wie schneidet die Schweiz bei der Überlebensrate von Brustkrebspatientinnen im Vergleich zu anderen OECD-Staaten ab? Solche Daten sind unverzichtbar. Wichtig ist allerdings, die Zahl der Indikatoren in einem vernünftigen Rahmen zu halten, damit wir uns nicht im Dickicht verlieren.
Der Gesetzgeber verpflichtet die Leistungserbringer gemäss Artikel 58 KVG, die Qualität systematisch zu verbessern. Herr Froidevaux, Sie kennen Arztpraxen und Spitäler aus nächster Nähe – wird Qualität im Alltag tatsächlich gelebt?
Froidevaux: Ich sage es bewusst pointiert: Qualität liegt in der DNA der Leistungserbringer. Ohne diese tief verankerte Qualitätsorientierung wären wir heute nicht dort, wo wir stehen. Niemand hat auf staatliche Vorgaben gewartet. Ein gewisser Rahmen ist allerdings sicher gut. Viele Innovationen entstehen direkt vor Ort. Ein Beispiel ist das von der Schweizerischen Gesellschaft für Medizinische Onkologie (SGMO) patronierte Zertifikat «Swiss Cancer Network», das ich mitentwickeln durfte. Es stellt sicher, dass Krebspatientinnen und Krebspatienten bestmöglich behandelt werden, indem unter anderem bei jeder neuen Krebsdiagnose ein interdisziplinäres Expertengremium die Therapieoptionen bespricht – ein gewaltiger Fortschritt im Vergleich zu früher.
Jordi: Hier muss ich widersprechen. Nach meiner Einschätzung ist Qualität noch nicht in allen Bereichen ausreichend verankert. Zwar gibt es in Spitälern Qualitätsbeauftragte, doch in den Leitungsgremien – die häufig nicht medizinisch besetzt sind – wird das Thema teils zu wenig ernst genommen. Qualität muss sowohl von unten als auch von oben gelebt werden.

Immer wieder ist in der Öffentlichkeit von Spitalseite oder aus der Ärzteschaft von «Bürokratiemonstern», «Qualitätsfetischismus» oder gar «Kontrollwahn» des Gesetzgebers die Rede. Wie reagieren Sie auf diese Kritik?
Jordi: Ich finde es zynisch, wenn von Qualitätsfetischismus gesprochen wird. Studien zeigen, dass 12 Prozent der hospitalisierten Patientinnen und Patienten in akutsomatischen Spitälern ein unerwünschtes Ereignis erleben – fast die Hälfte davon wäre vermeidbar und würde viel Leid ersparen. Das zeigt, dass wir noch erheblichen Handlungsbedarf haben, und rechtfertigt auch, dass die Politik eine forschere Gangart verlangt. Gleichwohl sehen wir Fortschritte, etwa bei der Infektionsprävention, Checklisten im Operationssaal oder beim Sepsis-
Programm der EQK.
Wenn wir von Bürokratie sprechen: Wie aufwendig ist die Erhebung und Auswertung von Qualitätsdaten in der Praxis?
Froidevaux: Entscheidend ist, dass der überwiegende Teil der Ressourcen – mindestens 95 Prozent – in die tatsächliche Verbesserung fliesst und nicht in die Administration. Wenn wir das nicht sicherstellen, machen wir etwas falsch. Investitionen in Qualität zahlen sich doppelt aus: Sie steigern die Versorgungssicherheit und senken die Kosten.
Jordi: Wir versuchen, Programme zu unterstützen, die auf bestehenden Daten aufbauen, damit das Gesundheitspersonal möglichst wenig zusätzlich belastet wird. Gleichwohl ist in einem System mit fast 100 Milliarden Franken Kosten pro Jahr eine Übersicht unabdingbar. Versicherte und Steuerzahlende haben ein Recht darauf. Einheitliche Erfassungssysteme würden vieles erleichtern, doch in einem derart fein ziselierten Gesundheitssystem mit 26 Kantonen und vielen Akteuren gehört es dazu, dass jeder am liebsten sein Ding macht. Die nötige Standardisierung kostet Zeit und braucht viel Überzeugungsarbeit.
Ein Instrument, um die Qualität voranzutreiben, sind die Qualitätsverträge zwischen den Verbänden der Leistungserbringer und der Krankenversicherer. Halten sie das, was sie versprechen?
Jordi: Das können wir noch nicht beurteilen. Der EQK liegt erst der Vertrag zwischen den Spitälern und den Versicherern vor. Ich bin zuversichtlich, dass er Verbesserungen bringt und sich das Modell weiterentwickeln lässt. Wir werden den Vertragspartnern, gestützt auf ihren eingereichten ersten Bericht, bald konkrete Verbesserungsempfehlungen geben. Besorgniserregend ist für mich jedoch das Tempo: Von 17 Verträgen wurde bisher erst einer abgeschlossen, obwohl die Umsetzungsfrist schon vor zwei Jahren verstrichen ist. Der Prozess ist zu träge.
Froidevaux: Ich schaue ebenfalls mit einer gesunden Skepsis auf dieses Instrument. Der gesetzliche Rahmen ist sinnvoll, doch dürfen die Verträge keinesfalls zu Papiertigern werden. Angesichts des Fachkräftemangels müssen wir alles vermeiden, was das jetzt schon überlastete System zusätzlich belastet.
Wir haben also die Qualitätsverträge, welche den Rahmen setzen und in der Praxis mit konkreten Verbesserungsmassnahmen gefüllt werden müssen. Welche Tools bringen uns vorwärts?
Jordi: Dazu kann ich Ihnen keine News erzählen, die Handlungsfelder sind bekannt, man muss einfach handeln. Oft sind Arztpraxen und Spitäler das Thema, doch wir müssen auch über andere Sektoren sprechen. In der Physiotherapie zum Beispiel gibt es enorme Unterschiede, etwa bei der Behandlung eines Kreuzbandrisses. Hier brauchen wir klare Guidelines. Ähnliches gilt für die rund 1500 Pflegeheime: Dort bestehen grosse Unterschiede, beispielsweise bei der Medikation. Wie kann es sein, dass bei gleichem Krankheitsbild das eine Pflegeheim 14 und das andere acht Medikamente abgibt? Deshalb hat die EQK das Programm «Qualität in der stationären Langzeitpflege» gestartet.
Froidevaux: Meines Erachtens müssen die Massnahmen zwingend zwei Dinge erfüllen: Sie müssen einen positiven Impact auf Patientinnen und Patienten sowie Angehörige haben und sie müssen wissenschaftlich fundiert sein. Und im besten Fall sparen sie auch Kosten.

Sie haben bei Pro Medicus mit mehreren Fachgesellschaften das Qualitätsprogramm «proQura» umgesetzt – erfüllt das diese Punkte?
Froidevaux: Ja, «proQura» erfüllt die gesetzlichen Vorgaben für den Umgang mit Arzneimittelrabatten, die Ärzte von Pharmafirmen erhalten, und umfasst rund 40 evidenzbasierte Massnahmen, von denen die Patientinnen und Patienten unmittelbar profitieren. Bereits 800 Ärztinnen und Ärzte sind dem Programm angeschlossen. Sie setzen den Rabattteil, den sie einbehalten dürfen, gezielt für evidenzbasierte Qualitätsmassnahmen ein, um die Behandlung und Betreuung der Patientinnen und Patienten zu verbessern. Gleichzeitig führt das Programm zu tieferen Kosten: Mehr als die Hälfte der Arzneimittelrabatte fliessen zwingend an die Krankenversicherer, zur Senkung der Prämien. So konnten wir mit «proQura» seit 2020 schon fast 50 Millionen Franken für das Schweizer Gesundheitswesen einsparen. Dies zeigt eindrücklich, dass mehr Qualität und tiefere Kosten kein Widerspruch sind.
Jordi: Ein gutes Programm. Allerdings schreitet auch hier die Umsetzung zu langsam voran. Noch immer behalten manche Ärztinnen und Ärzte Rabatte widerrechtlich. Hier müssen die Behörden und Dachverbände der Tarifpartner genauer hinschauen.
Froidevaux: Sich nicht an die neuen gesetzlichen Bestimmungen zu Arzneimittelrabatten zu halten, ist alles andere als ein Kavaliersdelikt. Wir würden das niemandem empfehlen.
Ich will noch kurz die Politik ansprechen. Sie macht fleissig Vorstösse zum Thema Qualität. Ein aktuelles Beispiel ist die Lockerung des Vertragszwangs, damit Kassen Leistungserbringer mit schlechter Qualität ausschliessen dürfen. Ist das für Sie zielführend?
Jordi: Ich halte das für den falschen Weg. Qualität wird nicht primär mit Geldanreizen, sondern mit gemeinsamen Lernsystemen gefördert. Ein Streit über die Kriterien für die Anwendung dieser neuen Regeln wäre vorprogrammiert.
Froidevaux: Ein solcher Systembruch wäre fatal. Wir haben mit den KVG-Artikeln 56 und 58 gute Instrumente. Wir sollten nicht ständig nach neuen Regularien rufen, sondern den bestehenden Rahmen mit konkreten Qualitätsprogrammen füllen, die einen Beitrag leisten zur Qualitätssteigerung und Kostensenkung.
Herr Jordi, Sie haben jetzt verschiedentlich die Aktivitäten der EQK eingeflochten. Laut der GPK des Ständerats ist sie noch nicht genügend verankert. Haben Sie dafür Verständnis?
Jordi: Jein. Die Anfangsphase fiel mitten in die Pandemie, da war es schwierig, Fahrt aufzunehmen. Inzwischen haben wir aber eine ganze Reihe von wichtigen Programmen gestartet und sinnvolle Finanzhilfen gewährt. Wir sind heute auf dem richtigen Weg.

Zum Abschluss: Was wünschen Sie sich für die nächsten fünf Jahre?
Jordi: Ich habe eine lange Liste. Zwei Punkte herausgepickt: Qualitätsverträge sind etabliert und greifen. Auch wünsche ich mir grosse Fortschritte in den Pflegeheimen, sowohl in der Medikationssicherheit als auch bei der Qualität der Behandlungsbegründung, damit die jeweils beste Massnahme für jede Patientensituation gewählt wird.
Froidevaux: Ich wünsche mir ein klares Set von Indikatoren, mit dem wir uns international vergleichen können. Zudem eine Kultur, in der Qualität positiv besetzt und breit verankert ist und nicht als Bürde «von oben» empfunden wird. Qualitätsprogramme wie «proQura» sollen in allen Sektoren umgesetzt werden. Und am allerwichtigsten: Wir müssen die Basis konsequent einbeziehen – die Patientinnen und Patienten sowie die Leistungserbringer. Ohne sie werden wir scheitern.