Andri Silberschmidt und David Roth

Zum Abheben bereit?
Ein verstärkt ambulantes Gesundheitswesen braucht nicht bloss finanzielle Reformen, sondern echten Antrieb. Welche zündenden Impulse jetzt nötig sind.

pro: Andri Silberschmidt
Das Schweizer Gesundheitswesen funktioniert gut. Es weist eine hohe Qualität auf und geniesst in der Bevölkerung grosses Vertrauen. Schritt für Schritt werden Verbesserungen vorgenommen – langsam, aber kontinuierlich. Diese Entwicklung unterscheidet sich deutlich von den grossen Baustellen bei den Sozialwerken. Zwischenzeitlich reisst der Reformstau Milliardenlöcher auf. Tiefgreifende strukturelle Reformen sind da längst überfällig. Anders im hochkomplexen Gesundheitswesen: Ein radikaler Systemwechsel wäre riskant und würde ein hohes Schadenpotenzial mit sich bringen.
Allerdings führt die hohe Regulierungsdichte im Gesundheitswesen dazu, dass die Strukturen dazu tendieren, Trägheit und Ineffizienzen zu zementieren. Ein ausgeprägter Wettbewerb, der in anderen Branchen als Motor für Innovationen und Effizienzsteigerungen dient, ist im Gesundheitswesen kaum vorhanden. Notwendige Fortschritte, insbesondere bei der Digitalisierung und der Automatisierung, blieben in den vergangenen Jahren auf der Strecke.
Aufgrund des stark regulierten Wettbewerbs richtet sich der Blick laufend auf die Politik. Sie setzt die Rahmenbedingungen und gibt die Richtung vor. Dadurch entstehen hohe Erwartungen, welche sie jedoch nie gänzlich erfüllen kann. Die Politik orientiert sich stets an der Machbarkeit und Mehrheitsfähigkeit. In ihrem Zentrum steht der Kompromiss. Erfolgreiche Reformen müssen daher auf breite Unterstützung bauen – ein Prozess, der Zeit erfordert. Doch das bedeutet keineswegs Stillstand.

«Unser Gesundheitssystem ist kein dysfunktionales System, das eine Revolution braucht.»
Die Gesundheitskommission des Nationalrats tagt quartalsweise an drei Tagen und diskutiert in jeder Sitzung kleine Reformen und Gesetzesänderungen. Nicht selten gelangen wir zu guten Entscheidungen. Ein entscheidender Erfolgsfaktor für sinnvolle Reformen ist die frühzeitige Einbindung aller relevanten Akteure. Patientinnen und Patienten, das Bundesamt für Gesundheit, die Leistungserbringer und die Versicherer müssen gemeinsam an einem Strang ziehen. Diese Dynamik mag nicht revolutionär sein, aber sie ist stetig.
Unser Gesundheitswesen ist kein dysfunktionales System, das eine Revolution braucht. Im Gegenteil: Es ist ein hoch entwickeltes, jedoch (zu) dicht reguliertes System, das mit klugen Reformen im Kleinen Schritt für Schritt verbessert wird. Die Politik ist gefordert, diese Reformen zu gestalten – mit Bedacht, Pragmatismus und dem Blick auf das Machbare. Dass wir das können, haben wir kürzlich mit EFAS oder dem zweiten Massnahmenpaket bewiesen.
contra: David Roth
Die Schweiz gibt jährlich 90 Milliarden Franken für Gesundheit aus. Das ist ein Zeichen des Wohlstands. Doch das System ist unsozial: Zusatzversicherte erkaufen sich Vorteile, während finanziell schwächer gestellte Personen aus Kostengründen auf Behandlungen verzichten. Die Finanzierung ist eine der unsozialsten weltweit: Kopfprämien und hohe Kostenbeteiligungen belasten die Menschen, während sich einzelne Leistungserbringer und Unternehmen bereichern.
Viele Patientinnen und Patienten meiden Behandlungen aus Angst vor Kosten. Politische Vorstösse drohen zudem, die Zweiklassenmedizin zu verschärfen und gar zu offizialisieren: Erhöhung der Franchisen, Notfallgebühren, Vertragszwang-Abschaffung oder Einsparungen in der Langzeitpflege durch die einheitliche Finanzierung von ambulant und stationär (EFAS). Durch die erwiesene Überversorgung von Zusatzversicherten werden zudem die Prämien der Grundversicherten zusätzlich belastet, denn der medizinische Tarif wird immer der Grundversicherung in Rechnung gestellt.

«Kostendämpfungen allein reichen nicht für eine soziale Finanzierung, da die notwendigen Gesundheitsausgaben zu hoch sind.»
Obwohl EFAS im Parlament von allen Parlamentsfraktionen getragen wurde, ist die Reform beinahe vor dem Volk gescheitert. Das macht klar: Ohne soziale einkommensabgestufte Finanzierung werden künftige Reformen chancenlos sein in der Bevölkerung. Sie ist deshalb Voraussetzung für weitere Verbesserungen, unabhängig davon, ob sie mit mehreren Krankenversicherungen oder als Teil einer öffentlichen Krankenversicherung vollzogen wird. Denn Kostendämpfungen allein bringen noch keine soziale Finanzierung. Dafür sind die für Gesundheit heute und künftig nötigen Ausgaben schlicht zu hoch.
Dennoch ist es unabdingbar, die Leerläufe und Doppelspurigkeiten im System zumindest auf ein minimales Mass zu reduzieren. Das gilt etwa in Bezug auf den Föderalismus: Die Spitalplanung muss möglichst bald überregional organisiert werden. Ebenso die überfällige Digitalisierung im Gesundheitswesen, welche nur mit Bundeskompetenz und national sinnvoll sowie schnell vorangetrieben werden kann. Neben den Leerläufen müssen auch die unzähligen Profitmöglichkeiten zulasten der Prämienzahlenden eliminiert werden: mengenabhängige Tarifsysteme ohne Budgetverantwortung, astronomisch hohe Medikamentenpreise, exorbitante Löhne von Spezialärztinnen und Spitalärzten etc. All dies hat in einer Sozialversicherung wie der OKP nichts verloren.
Daher setze ich mich für eine Deckelung der Löhne von Spezialistinnen und Spezialisten, eine deutliche Erhöhung des Kantonsanteils bei der einheitlichen Finanzierung und ein Ende der Zusatzversicherungs-Überversorgung ein. Die Schweiz hat eine gute Gesundheitsversorgung, doch das System wird immer unsozialer. Eine grundlegende Reform ist keine radikale Idee, sondern eine Notwendigkeit.