Martina Bircher und Katharina Prelicz-Huber
Pro: Martina Bircher
Die Ausgaben im Gesundheitswesen können exakt beziffert werden. 2021 waren es 86,344 Milliarden Franken. Das bedeutet, dass jede Einwohnerin und jeder Einwohner in der Schweiz 10 000 Franken Gesundheitskosten pro Jahr verursacht. Die Krankenkassenprämien steigen stetig an und sind mittlerweile in jedem Sorgenbarometer der Bevölkerung unter den Top drei vorzufinden.
Leistungskatalog begrenzen – aber wie?
Entspricht der heutige Leistungskatalog noch den ursprünglichen Regeln? Braucht es Begrenzungen und wie könnten diese aussehen?
In der öffentlichen Diskussion wird oft der Begriff «Leistungskatalog» verwendet. Jedoch existiert streng genommen kein einheitlicher Katalog für medizinische Leistungen, wie es etwa bei Medikamenten oder Laboranalysen der Fall ist. Stattdessen gilt das Vertrauensprinzip als Pflichtleistungsvermutung, bekannt als die Krankenleistungsverordnung. Das bedeutet, dass Leistungen, die von einer Ärztin bzw. einem Arzt verschrieben werden, von den Krankenversicherungen übernommen werden müssen. Das Krankenversicherungsgesetz legt zwar fest, dass eine medizinische Leistung «zweckmässig» sein muss, aber die Durchsetzung dieser Bestimmung ist schwierig. Denn die Zweckmässigkeit ist keine klar definierte Grösse oder Menge. Was als zweckmässig gilt, ist nicht eindeutig geregelt.
Beispiele aus jüngster Zeit verdeutlichen, wie immer mehr Leistungen durch die Obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) abgedeckt werden müssen. Die Abnehmspritze «Wegovy» wird seit Kurzem von der Grundversicherung übernommen. Sicherlich kann argumentiert werden, dass adipöse Patientinnen und Patienten hohe Gesundheitskosten verursachen, wenn sie ihr Gewicht nicht reduzieren. Dennoch zeigt sich eine klare Tendenz im heutigen System – weg von der Eigenverantwortung hin zu einem umfassenden solidarischen Schutz durch die OKP. Zudem hat der Bundesrat letztes Jahr beschlossen, dass die HIV-Prophylaxe PEP von der OKP vergütet werden muss. Dies ist insofern bedenklich, als dass dadurch die jahrzehntelange Präventionsarbeit bei sexuell übertragbaren Krankheiten untergraben wird. Schliesslich zwingt auch das Bundesgericht die Krankenversicherungen dazu, immer mehr Leistungen zu übernehmen. So müssen nun auch die Pflegeleistungen von pflegenden Angehörigen vergütet werden.
«Es zeigt sich eine klare Tendenz – weg von der Eigenverantwortung hin zu einem umfassenden Schutz durch die OKP.»
Martina Bircher
Ein mehrjähriges Moratorium soll dazu beitragen, die Kosten und damit die Prämienentwicklung zu dämpfen und die Bevölkerung von weiteren Prämiensprüngen zu verschonen. Gleichzeitig sollte das Parlament im Sinne einer Selbstverpflichtung bei neuen Leistungen zurückhaltend sein.
Neue Leistungen, die zum Beispiel aufgrund ihres innovativen Charakters gerechtfertigt sind, sind jedoch von der Regelung auszunehmen. In Anbetracht der Kostenentwicklung muss aber eine stärkere politische Kontrolle durchgesetzt werden, ähnlich wie bei der Ausgabenbremse.
Contra: Katharina Prelicz-Huber
Die Einführung des KVG 1996 ist eine Errungenschaft: endlich via obligatorische Krankenversicherung bei Krankheit versichert zu sein und ohne Angst vor Kosten die adäquate Behandlung erhalten zu können. Seither hat sich die Medizin stark entwickelt. Alle sollen von diesem Fortschritt ohne Einschränkung profitieren können. Das ist der Sinn des KVG!
Nachdenklich stimmt, wenn im Gesundheitswesen nur über Kosten gesprochen wird statt über die grosse Wertschöpfung. Eine gute Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung ist ein zentrales Menschenrecht und verfassungsmässig garantiert. Sie dient uns allen, generiert viele Arbeitsplätze und ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.
Ein Systemfehler sind die Kopfprämien: Alle zahlen die gleich hohen Krankenkassenprämien, unabhängig vom Verdienst. So ist die Gesundheitsversorgung für Gutverdienende zum Spottpreis zu haben, während die Prämien für Tief- und Mittelverdienende trotz Prämienverbilligung eine grosse Belastung sind. Wider die Grundidee des KVG! Es braucht dringend eine faire Finanzierung über öffentliche Gelder; auch bei der Altersbetreuung, bei der das Pflegeheim weitgehend von den Patientinnen und Patienten zu bezahlen ist. Viele treibt dies in die Mittellosigkeit. Unwürdig! Das Modell «Skaevinge» für Langzeitpflege in Dänemark würde zeigen, wie ein Service public im Gesundheitswesen greift und von der Bevölkerung breit getragen ist.
«Eine gute Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung ist ein zentrales Menschenrecht und verfassungsmässig garantiert.»
Katharina Prelicz-Huber
Die nötigen Leistungen ohne Einschränkung zu erhalten, ist nicht zu verwechseln mit einer kompletten Anspruchsbefriedigung von Patientinnen und Patienten. Menschen können sich heute im Internet «schlaumachen» über ihr vermeintliches Leiden und dessen Behandlung. Es kann nicht sein, dass Patientinnen und Patienten z. B. ein CT verlangen können, weil sie dies bei Nackenschmerzen für angebracht halten und mit Anwältinnen und Anwälten drohen, wenn ihr Wunsch verwehrt wird. Weder Dr. Google noch die Krankenkassen bestimmen die nötige Behandlung – die Diagnose fällt die Ärztin oder der Arzt als ausgewiesene Fachperson.
Es darf keine Anreize geben zu operieren, weil es lukrativer ist als Pflege und Betreuung, und wo möglich ist ambulant statt stationär zu behandeln. Gewisse Spezialisten und Chefs verdienen unverschämt viel und noch immer sind die Gewinne der Pharmaindustrie zu hoch. Das wären wirkungsvolle Sparansätze, statt über Leistungsabbau zu sprechen und dem Pflegepersonal die dringend nötigen Lohnverbesserungen zu verwehren.
Die Errungenschaft der adäquaten Behandlung für alle, unabhängig vom Budget, muss Sinn des KVG-Obligatoriums bleiben – inklusive der Zahnbehandlung, weil gesunde Zähne zentral sind für das Wohlbefinden und die Gesundheit der Menschen.