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«Ein Fünftel der Gesundheitskosten geht auf Über­versorgung zurück»

Den Leistungskatalog entschlacken, die Überversorgung anpacken, den Vertragszwang überprüfen – Professor für Hausarztmedizin Nicolas Rodondi und FDP-Gesundheitspolitiker Andri Silberschmidt haben viele Ideen, um den Kostenanstieg im Gesundheitswesen einzudämmen. Und sie sind sich oft erstaunlich einig.

Andri Silberschmidt-Buhofer, Nationalrat und Vizepräsident der FDP

Prof. Dr. med. Nicolas Rodondi, Professor für Hausarztmedizin und allgemein innere Medizin an der Universität Bern

Sonja Hasler, Journalistin und Moderatorin

17. Juni 2024

Die hohen Krankenkassenprämien beschäftigen die Menschen in unserem Land sehr. Kein Wunder, denn die Prämien haben sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Beschäftigt Sie diese Tatsache auch oder haben Sie sich als Gesundheitsexperten daran gewöhnt?
Andri Silberschmidt: Ich persönlich schaue alle paar Jahre, ob es eine Krankenversicherung gibt, die mir besser zusagt. Vor allem alternative Ver­sicherungsmodelle finde ich spannend, weil dort Innovationen möglich sind und ich von tieferen Prämien profitiere, wenn ich auf gewisse Leistungen verzichte. Und tatsächlich sind die Prämienerhöhungen auch in meinem Freundeskreis immer ein Riesenthema.

Verlangen dann Ihre Freunde von Ihnen, endlich etwas dagegen zu unternehmen?
Silberschmidt: Ja. Der Prämienanstieg ist allerdings keine Überraschung. Im heutigen Gesundheitssystem gibt es leider kaum Anreize zum sparsamen Verhalten. Egal, wie gesund ich lebe, meine Prämie steigt trotzdem.
Nicolas Rodondi: Selbstverständlich ist der Prämienanstieg auch für mich ein Thema und man sollte Massnahmen zur Stabilisierung der Kosten überlegen. Wichtig ist aber, dass wir die Gesamt­situation anschauen. In der Schweiz ist die Qualität der medizinischen Versorgung sehr hoch und im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist die Bevölkerung sehr zufrieden mit den Leistungen.

Welche Rolle spielt der Leistungskatalog bei der Entwicklung der Kosten? Deckt die Grundversicherung Ihres Erachtens zu viel ab?
Rodondi: Eine Massnahme ohne Reduzierung der Qualität ist die Überversorgung. Zu viele Leistungen werden erbracht, die keinen medizinischen Nutzen bringen, aber grosse Kosten verursachen. Rund 20 Prozent der Gesundheitskosten sind laut OECD auf unnötige Behandlungen zurückzuführen. Diesen Missstand muss man dringend angehen.

Das bedeutet, meine Prämie wäre um einen Fünftel tiefer, würde dieses Problem gelöst?
Rodondi: Theoretisch schon, leider ist es nicht einfach, die vielen überflüssigen Untersuchungen, Operationen sowie Medikamente und damit auch grosse administrative Kosten zu eliminieren. Um diese Überversorgung zu reduzieren, haben wir von «smarter medicine» schon über 100 Empfehlungen gegeben. Ein bekanntes Beispiel sind Magenschutzmedikamente. Bei 50 Prozent der Patientinnen und Patienten nützen sie nichts, im Gegenteil, die Personen können unter Nebenwirkungen leiden. Eine Behandlung, die mehr schadet als nützt, wird von den Kassen bezahlt.

Da frage ich mich schon, warum man derart unnötige Behandlungen nicht unterbindet.
Rodondi: Zur Überversorgung haben wir fast keine Daten in der Schweiz. Wir müssen wissen, wo zu viele unnötige Behandlungen gemacht werden, sonst kann man keine Massnahmen ergreifen. Ich gebe Ihnen ein weiteres Beispiel einer sehr teuren und meist unnötigen Intervention. Bei gebrochenen oder eingefallenen Wirbeln wird bei der Vertebroplastie die Wirbelsäule mit Knochenzement wieder gefestigt. In der Schweiz wird dieser Eingriff unnötig oft durchgeführt, weil er von den Kassen rückerstattet wird.

Sonja Hasler
Interview: Sonja Hasler; Fotos: Ruben Hollinger

Herr Silberschmidt, als kostenbewusster Gesundheitspolitiker müssen bei Ihnen jetzt die Alarmglocken läuten.
Silberschmidt: Ich setze mich erst einmal aufrecht hin, um die Wirbelsäule zu schonen. Aber im Ernst: Wenn ein Mensch gesund bleibt, verdient in der Schweiz fast niemand daran. Das ist das Problem. Verdient wird an Medikamenten, Laboranalysen und Behandlungen. Wenn man den Anreiz gibt, mit Behandlungen Geld zu verdienen, dann wird behandelt. Das ist kein Vorwurf an die Leistungs­erbringer, das ist unser System.
Rodondi: Das unterschreibe ich. Unsere Tarif­struktur verstärkt die Überversorgung. Für Untersuchungen und Eingriffe gibt es hohe Rück­erstattungen, für ein wichtiges Patientengespräch praktisch nichts. Bei Patientinnen und Patienten mit Rückenschmerzen haben Ärztinnen und Ärzte zwei Möglichkeiten. Entweder entsprechen sie dem Wunsch des Patienten, schicken ihn zum MRI und verursachen damit Kosten von 500 Franken. Oder sie überzeugen ihn im Gespräch, dass ein MRI nicht unbedingt mehr Erkenntnisse bringt. Dauert die Konsultation länger als 20 Minuten, wird dafür nichts bezahlt.

Noch einmal: Was heisst das für den Leistungskatalog? Werden heute zu viele Leistungen durch die Kassen gedeckt?
Silberschmidt: Natürlich sollte man den Katalog laufend entschlacken. Ein gutes Beispiel war die Verschreibung von Vitamin D. Die vorsorgliche Einnahme von Vitamin D bringt bei gesunden Menschen wenig, trotzdem hat die OKP bezahlt. Das wurde angepasst. Ich befürchte, dass die Grundversicherung zunehmend zu einer Allgemeinversicherung verkommt. Weshalb dann noch eine Zusatzversicherung, wenn die Grundversicherung so viel abdeckt?
Rodondi: Vor allem neue Leistungen werden viel zu einfach in den Katalog aufgenommen. Aktuell kommt alles durch, selbst wenn es nicht wirksam ist. Die Vertreter der Pharmaindustrie, die in der Medikamentenkommission sitzen, haben selbstredend das Interesse, dass möglichst viele Medikamente im Katalog aufgenommen werden. Es braucht einen Gesundheitsbeirat, eine unabhängige Instanz ohne Interessenkonflikt, die neue Leistungen prüft.

Nicolas Rodondi

«Es braucht einen Gesundheitsbeirat, eine unabhängige Instanz ohne Interessenkonflikt.»

Nicolas Rodondi

Gibt es also zu viele Player, die Interesse an einer Ausweitung des Leistungskatalogs haben, weil sie damit Geld verdienen?
Rodondi: Es braucht dringend genauere Prüfungen. Neue Medikamente sind sehr teuer und kosten teilweise mehrere Hunderttausend Franken pro Jahr und Patient. Grosse Studien haben gezeigt, dass 50 Prozent der neuen Medikamente nichts nützen. Sie sind auf dem Markt und werden bezahlt. Sind sie einmal auf der Liste, bleiben sie lange da.

Seit diesem Frühling bezahlen die Kassen neu auch die Abnehmspritze Wegovy.
Rodondi: Um diese Spritze gibt es einen richtigen Hype. Sie ist sehr teuer, aber es ist kein Wundermittel für die Gewichtskontrolle. Setzt man sie ab, nimmt man das Gewicht, das man verloren hat, schnell wieder zu. Verbessert so etwas wirklich die Gesundheit der Bevölkerung?

Die Leistungserbringer sind gesetzlich verpflichtet, nach dem WZW-Prinzip zu handeln, wirksam, zweckmässig, wirtschaftlich. Nehmen sie diese Verpflichtung tatsächlich wahr?
Silberschmidt: Ich spreche jetzt den Vertragszwang an, damit bin ich für viele schon sehr nahe beim Teufel. Die Versicherungen verfügen über sehr viele Daten, sie wissen also, welche Leistungserbringer unverhältnismässig hohe Kosten verursachen. Nach fünf, spätestens zehn Jahren müssten die Versicherer sagen können: Du handelst nicht nach dem WZW-Prinzip! Sie müssten abmahnen und, wenn das nichts bringt, Konsequenzen daraus ziehen. Bei ambulanten Leistungen gibt es jedoch kaum regulierende Massnahmen.
Rodondi: Die Kassen können heute schon handeln. Wenn im gleichen Fachgebiet die Kosten eines Arztes viel höher sind als die Kosten seiner Kollegen, muss er bei schwerwiegenden Überschreitungen die zu hohen Beträge zurückzahlen. Oder er erhält eine hohe Busse, wie kürzlich ein Arzt in Genf. Leider werden dabei die Qualität oder die Überversorgung zu wenig berücksichtigt. Mir ist es wichtig zu sagen, dass die allermeisten Ärztinnen und Ärzte gute Arbeit leisten und die WZW-Kriterien anwenden.

Braucht es stärkere Kontrollen, neue Technologien, die das WZW-Prinzip besser überwachen?
Silberschmidt: Wir brauchen vor allem mehr und besser vernetzte Daten. Vom neuen Programm «DigiSanté», das die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorantreibt, erhoffe ich mir sehr viel. Als grosses Problem erachte ich, dass den Kassen heute in Sachen Daten die Hände gebunden sind. Sie dürfen Patientinnen und Patienten nicht einmal darüber informieren, dass sie statt des Originalpräparats ein günstigeres Generikum nehmen könnten. Das will ich ändern, Versicherer sollen nicht nur Payer, sondern auch Player sein.
Rodondi: Sie erwähnen die Generika. Daten der OECD zeigen, dass die Generika in der Schweiz nur 23 Prozent des Medikamentenmarkts ausmachen, gegenüber 83 Prozent in Deutschland. Das ist ein riesiger Unterschied und hat natürlich einen Einfluss auf die Kosten.
Silberschmidt: Wir brauchen generell mehr Preistransparenz. Bürgerinnen und Bürger wissen wenig darüber, welche Leistung wie viel kostet. Überall sehe ich Preisschilder, nur nicht im Gesundheitswesen. Niemand weiss, ob ein MRI 500 oder 2000 Franken kostet. Die Leistungserbringer sollten sagen: Schau, es gibt zwei Behandlungsmöglichkeiten, die eine kostet so viel, die andere so viel. Das würde uns sensibilisieren und uns erlauben, eigenverantwortlich zu handeln.
Rodondi: Leider wissen viele Ärztinnen und Ärzte selbst nicht, wie viel gewisse Behandlungen kosten. Wir haben kürzlich einen Artikel über Cholesterinsenker publiziert, samt Preisen. Ich finde Kostentransparenz sehr wichtig.

Andri Silberschmidt-Buhofer

«Wir brauchen mehr und besser vernetzte Daten. Vom neuen Programm ‹DigiSanté› erhoffe ich mir viel.»

Andri Silberschmidt-Buhofer

Herr Silberschmidt, die FDP hat im letzten Sommer die «Budget-Krankenversicherung» lanciert und für Furore und Kritik gesorgt. Wer einen reduzierten Leistungskatalog in Kauf nimmt, zahlt weniger Prämien. Was ist aus dieser Idee geworden?
Silberschmidt: Wir sind daran, die einzelnen Massnahmen umzusetzen. Ich gebe Ihnen drei Bei­spiele: den Abschluss von Mehrjahresverträgen mit einer Krankenversicherung, die Erhöhung der Maximal­franchise und dass die Versicherer die Patienten informieren können. Daneben haben wir im Parlament mit EFAS (die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen) einen grösseren Wurf gelandet und ich hoffe auf das neue Tarifsystem Tardoc. Leider gibt es in der Gesundheitspolitik zu viele, die den Status quo verteidigen, weil sie davon profitieren.
Rodondi: Als nächste Schritte müssen wir bei der Überversorgung ansetzen, bei den Generika, beim elektronischen Patientendossier und wir müssen die Grundversorgung stärken. Eine Konsultation beim Hausarzt ist viel billiger als ein Besuch auf der Notfallstation. Die Kunst, die hohe Zufriedenheit der Menschen trotz tieferer Kosten zu erhalten, muss unser Anliegen sein.

Ich möchte möglichst lange gesund bleiben. Haben Sie da einen guten Tipp?
Silberschmidt: Ich habe eine einfache Regel: mindestens sieben Stunden schlafen, mindestens fünf Tage kein Alkohol und mindestens zweimal pro Woche Sport. Das ziehe ich seit Jahren durch und fühle mich gut. 

Andri Silberschmidt-Buhofer

ist studierter Betriebsökonom, Nationalrat der FDP des Kantons Zürich und Vizepräsident der FDP. Er ist Mitglied der Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK).

Prof. Dr. med. Nicolas Rodondi

ist Professor für Hausarztmedizin und allgemeine innere Medizin an der Universität Bern und Direktor des Berner Instituts für Hausarztmedizin (BIHAM). Er ist auch Präsident des Vereins smarter medicine, der sich gegen medizinische Überversorgung einsetzt.

Sonja Hasler

ist Journalistin bei Radio SRF und moderiert unter anderem die Talk-Sendung «Persönlich». Bis 2015 war sie Moderatorin der «Rundschau» und der «Arena» beim Schweizer Fernsehen.

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