Die Notwendigkeit des Wandels

Die Ambulantisierung bietet die Chance, das Schweizer Gesundheitssystem zukunftsfähig zu gestalten, Kosten zu senken und die Versorgungsqualität zu sichern. Eine erfolgreiche Transformation erfordert neben strukturellen Anpassungen ein nachhaltiges Umdenken. Der Trend ist nicht neu – die Volumina für ambulante Leistungen steigen seit Jahren, zwischen 2018 und 2022 um rund 3,6 Prozent pro Jahr.1
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Ein verstärkt ambulantes Gesundheitswesen braucht nicht bloss finanzielle Reformen, sondern echten Antrieb. Welche zündenden Impulse jetzt nötig sind.

Ein ambulant ausgerichtetes Gesundheitswesen bringt drei Hauptvorteile:
- Erstens trägt die Verlagerung stationärer Leistungen in den ambulanten Bereich zur Senkung der Gesundheitsausgaben bei. Ambulante Behandlungen sind deutlich kostengünstiger, da sie weniger stationäre Pflege- und Hotellerieleistungen erfordern und geringere Anforderungen an die Infrastruktur stellen. PwC schätzt das Einsparpotenzial auf rund 1,4 Mrd. Franken pro Jahr.2
Zweitens entschärft die Ambulantisierung den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen. Dieser belastet das Gesundheitssystem, und es braucht Lösungen, um Engpässe ohne Angebotsverlust auszugleichen. Ambulatorien benötigen keinen Schichtbetrieb und kommen mit weniger oder anders qualifiziertem Personal wie etwa medizinischen Praxisangestellten aus. Es kann davon ausgegangen werden, dass über alle Berufsgruppen hinweg rund 9000 Vollzeitstellen (FTE)3, unter anderem durch Reduktion der Wochenend- und Nachtdienste, weniger benötigt werden, um im Vergleich zu heute vergleichbare Leistungen zu erbringen. Dabei ist ein allfälliger Aufbau von Stellen im Bereich der Vor- und Nachsorge entlang des ambulanten Behandlungspfades mitberücksichtigt.
Drittens profitieren die Patientinnen und Patienten direkt von ambulanten Behandlungsformen. Viele Eingriffe werden minimalinvasiv durchgeführt, was die Erholungszeit verkürzt.4 Auch das Risiko von Spitalinfektionen sinkt, wenn Patientinnen und Patienten keinen stationären Aufenthalt benötigen. Trotz nationaler Bemühungen liegt die Infektionsrate in Schweizer Spitälern immer noch bei 5,9 Prozent.5
Somit ist die Ambulantisierung ein vielversprechender Ansatz, um die medizinische Versorgung effizienter zu gestalten und zugleich die Patientenzufriedenheit und Versorgungsqualität auf hohem Niveau zu halten.
«Die Volumina für ambulante Leistungen steigen seit Jahren, zwischen 2018 und 2022 um rund 3,6 Prozent pro Jahr.»
Voraussetzungen für eine erfolgreiche Ambulantisierung:
Damit die beschriebenen Vorteile genutzt werden können, braucht es Veränderungen.
- Korrekte finanzielle Anreize: Die Ambulantisierung kommt insgesamt nur schleppend voran, vor allem aufgrund finanzieller Fehlanreize. Die konsequente Umsetzung der einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (EFAS) ist eine wichtige Voraussetzung, um Fehlanreize zu korrigieren. Zudem sollten die Preise für ambulante Behandlungen dort steigen, wo ambulante statt stationäre Versorgung möglich ist. Die derzeitige Vergütung begünstigt stationäre Behandlungen und macht ambulante Leistungen oft unrentabel. Die Krankenversicherer sollten das spitalambulante Geschäft in die Spitalzusatzversicherungen integrieren.
Anpassung des Betriebsmodells: Eine erfolgreiche Ambulantisierung erfordert eine gezielte Anpassung des Betriebsmodells. Spitäler sollten Organisation, Infrastruktur und Prozesse so verändern, dass ambulante Eingriffe effizienter und in grösserem Umfang durchgeführt werden können. Trotz fehlender finanzieller Anreize zeigen Beispiele aus dem Schweizer Gesundheitswesen, dass ein solcher Wandel möglich ist. Einrichtungen wie «the Circle» des Universitätsspitals Zürich oder «MEDIN» des Spitalzentrums Biel setzen bereits heute auf innovative ambulante Betriebsmodelle.
Stärkung der interprofessionellen Vor- und Nachsorge: Mehr ambulante Behandlungen erfordern eine nahtlosere Betreuung, von der Vorbereitung bis zur Nachsorge. Entscheidend ist die enge Zusammenarbeit von Hausärztinnen und Hausärzten, Spezialistinnen und Spezialisten sowie Spitälern, ergänzt durch digitale Plattformen, die den Datenaustausch erleichtern und koordinierte Versorgung ermöglichen. Präoperative Programme wie Physiotherapie tragen dazu bei, dass ambulante Eingriffe oft erst medizinisch sinnvoll und effektiv durchgeführt werden können. Eine engmaschige Nachsorge sichert den Heilungsverlauf. Innovative Versorgungsmodelle erfordern allerdings entsprechende regulatorische und tarifliche Rahmenbedingungen.
Denkwandel: Eine tiefgreifende Veränderung erfordert ein Umdenken, sowohl bei den Leistungserbringern als auch bei den Patientinnen und Patienten. Ambulante Behandlungen sind als gleichwertige Alternative zu stationären Behandlungen zu etablieren. Neben finanziellen Anreizen für Leistungserbringer sollten die Patientinnen und Patienten über die Vorteile von ambulanten Eingriffen aufgeklärt werden.

Was die Schweiz vom Ausland lernen kann:
Auch wenn der Trend zur ambulanten Leistungserbringung erkennbar ist, liegt die Schweiz mit 21 Prozent ambulanten Eingriffen im europäischen Vergleich zurück. In den nordischen Ländern waren es 2022 bereits rund 60 Prozent.6 Länder wie die Niederlande haben früher und konsequenter auf eine ambulante Versorgung umgestellt – ein Prozess, der für Leistungserbringer bis zu zehn Jahre dauern kann. Der zeitliche Faktor war dabei zentral: Leistungserbringer benötigen diese Übergangszeit, um Strukturen, Abläufe und Kompetenzen schrittweise anpassen zu können. Nur so konnte die Ambulantisierung bisher nachhaltig umgesetzt werden.
Die Haupttreiber dieses Wandels in den Niederlanden waren einerseits die Krankenversicherer, die aufgrund des Kostendrucks gezielt eine Verlagerung vom stationären in den ambulanten Bereich vorangetrieben haben. Andererseits auch die Leistungserbringer selbst, die in der Ambulantisierung eine Möglichkeit sahen, dem zunehmenden Fachkräftemangel zu begegnen. Ein weiterer Erfolgsfaktor war der technologische Fortschritt, der beispielsweise minimalinvasive Eingriffe oder die Fernüberwachung von Patientinnen und Patienten erleichtert hat. Zwei zusätzliche Rahmenbedingungen unterscheiden die Niederlande von der Schweiz und haben die Ambulantisierung begünstigt: Zum einen wird die stationäre Versorgung dort nicht finanziell begünstigt, zum anderen ist das Gesundheitssystem insgesamt weniger fragmentiert – was koordinierte Veränderungen erleichtert.
Diese Unterschiede erschweren die Ambulantisierung in der Schweiz. Umso wichtiger ist es, den Wandel hier gezielt voranzutreiben – mit dem Ziel, überall dort zu ambulantisieren, wo es medizinisch sinnvoll ist. Wir sollten alles daran setzen, im Schweizer Gesundheitswesen einen optimalen Mix zwischen stationär und ambulant zu erreichen.
Quelle:
1 «Kosten des Gesundheitswesens nach Leistungserbringer», BFS, 2022.
2 «Schweizer Spitäler: So gesund waren die Finanzen 2023», PwC, 2024.
3 Berechnung PwC basierend auf der Einsparung von 1,4 Mrd. CHF durch die Ambulantisierung. Personalkosten machen davon zwei Drittel aus, was bei einem Durchschnittslohn von 100 000 CHF ca. 9000 FTE entspricht.
4 «OECD Health Policy Studies», OECD, 2021.
5 «Strategie NOSO: Spital-und Pflegeheiminfektionen reduzieren», BAG, 2024.
6 «Faktenblatt Verlagerung von stationär zu ambulant», BAG.