«Die Daten wären da –nutzen wir sie!»

Dass die Schweiz in Sachen Digitalisierung nicht gerade Vorreiterin ist, ist keine neue Erkenntnis. Aber mit Blick auf das Gesundheitswesen habe ich in den vergangenen Jahren durchaus Fortschritte gesehen. Das betrifft insbesondere die Datenerfassung und Dokumentation, die fast durchwegs digital erfolgt. Damit ist die unabdingbare Grundvoraussetzung auf dem Weg zu einem durchgängig digitalen Gesundheitswesen erfüllt. Den nächsten Schritt erachte ich als wesentlich anspruchsvoller. Nämlich, dass die erfassten Daten überall dort verfügbar sind, wo sie notwendig sind und sinnvoll weiterverwendet werden können. Dazu müssen wir die bestehenden Datensilos aufbrechen. Denn je besser die Datenlage ist und je effizienter der Datenfluss funktioniert, desto näher kommen wir dem Ziel – oder sagen wir vielleicht besser der Vision – einer Gesundheitsversorgung ohne Ineffizienzen. Damit könnte man dem im Gesetz definierten Grundsatz der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit (WZW) besser nachkommen.
Blindflug beim Sammeln von Daten
Unser Gesundheitssystem pflegt keinen einheitlichen Umgang mit Daten und verursacht Mehrkosten sowie Über- und Fehlversorgung.

Umfassende Dokumentation
Gerade als Hausarzt verfüge ich nach einer Konsultation in der Regel über eine umfassende individuelle Dokumentation. Man könnte fast von einem Logbuch sprechen, das ich über meine Patientinnen und Patienten anlege. Ich erfasse im Praxisalltag nicht bloss Diagnosen. Vielmehr fliessen auch persönliche Informationen in die Dokumentation ein, etwa der Umstand, dass jemand eine Darmkrebsvorsorge ausschlägt oder trotz Indikation auf eine Abklärung bei einem Herzspezialisten verzichten möchte. Ein solcher Eintrag in eine Krankenakte ist eine Momentaufnahme. Dies zu erfassen, ist nicht vorgeschrieben. Es kann jedoch in einem späteren Krankheitsfall von Relevanz sein und wertvolle Informationen liefern. Dank solch fundierter Fallkenntnisse können wir die bestmögliche Behandlung gewährleisten. Oft wird eine fehlende Codierung als Haupthindernis auf dem Weg zu einem digitalisierten Gesundheitssystem erachtet.
«Gerade in einem Notfall kann eine datenbasierte Behandlung lebenswichtig sein.»
Tatsächlich erfolgt die Erfassung einzelner Behandlungsschritte in der Hausarztmedizin in der Regel ohne Codierung. Hier dürfte jedoch die künstliche Intelligenz (KI) eine immer wichtiger werdende Hilfestellung leisten. Ich denke, dass dank KI ohne Codierung erfasste Patientendaten wohl bald schon problemlos in eine codierte Version übertragen werden können. Somit lägen standardisierte Daten vor, die vergleichbar wären und sich auswerten liessen. Nicht die Datenerfassung per se erachte ich deshalb als die grosse Herausforderung, sondern die Schaffung einer Schnittstelle, um digital erfasste Gesundheitsdaten in ein anderes System zu transformieren und für andere Leistungserbringer zugänglich zu machen. Meine Hoffnungen beruhen hier auf einem elektronischen Patientendossier (EPD), das diese Funktion übernehmen könnte.
Perfekt geschützte Daten?
Je mehr man über eine Patientin oder einen Patienten weiss, desto besser ist die jeweils behandelnde Person in der Lage, die richtigen Schlüsse zu ziehen und bisherige Behandlungsschritte nachvollziehen zu können. Gerade in einem Notfall kann eine solche datenbasierte Behandlung lebenswichtig sein. Als grosses Problem sehe ich die gesetzlichen Datenschutzbestimmungen. Sie stellen eine enorme Hürde dar und hemmen den Datenfluss. Hier müssen wir uns die Frage stellen: Wollen wir eine Medizin, in der die Daten perfekt geschützt sind – oder wollen wir einen Datenzugang, der eine bestmögliche Behandlung zulässt und die interprofessionelle Zusammenarbeit überhaupt erst ermöglicht? Wenn zum Beispiel ein wichtiger Laborwert aus Datenschutzgründen nicht weitergegeben werden darf, kann die Patientensicherheit darunter leiden. Zudem führt das zu Doppelspurigkeiten und Ineffizienzen.
Es braucht gesellschaftlichen Dialog
Allerdings ist nicht in erster Linie die schiere Menge an Daten massgebend, sondern vielmehr die Frage, wie strukturiert diese vorliegen und – vor allem – wie wir sie verwenden wollen. Hier wünschte ich mir einen gesellschaftlichen Dialog zur Frage: Wollen wir Daten schützen oder wollen wir Patientinnen/Patienten schützen? Wir brauchen also eine andere, eine offenere Kultur bezüglich unserer persönlichen Daten und dem Umgang damit, wie sie zum Beispiel in Schweden bereits gelebt wird. Sowohl das Individuum als auch die Politik sind in der Pflicht. Man mag Verfechter des Föderalismus sein. Aber gerade in Sachen Gesundheitsdaten und deren sinnvollen Verwendung braucht es eine zentrale starke Stimme, die sich für national geltende Standards einsetzt. Zum Wohle der Patientinnen und Patienten und im Hinblick auf eine effiziente Gesundheitsversorgung.