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Der Föderalismus als Sündenbock

Prämienanstieg: Jedes Jahr im Herbst erhitzen stetig steigende Krankenversicherungsprämien die Gemüter. Oft wird der Föderalismus dafür verantwortlich gemacht. Dabei ist gerade diese Staatsform eine grosse Bereicherung für unser Gesundheitssystem. Ist Zentralisierung zulasten von Vielfalt und Innovation wirklich die Lösung?

Jérôme Cosandey, Directeur romand und Forschungsleiter Finanzierbare Sozialpolitik bei Avenir Suisse

19. Februar 2025

Alljährlich werden die neuen Krankenversicherungsprämien angekündigt. Und obwohl die kantonalen Prämienunterschiede unter anderem die Ungleichheiten bei der Spitalplanung und der Organisation der medizinischen Grundversorgung widerspiegeln, wird die Schuld an der Kostenexplosion gern auf den Föderalismus geschoben. Die Forderungen nach einer nationalen Spitalplanung, der Einführung eines eidgenössischen Gesundheitsgesetzes oder einer Einheitskasse werden immer lauter. Was ist davon zu halten?

26 kantonale Versuchslabore

Eine Zentralisierung würde unserer Gesellschaft ein wesentliches Element des Gesundheitssystems vorenthalten: Innovation! Eine dezentrale Organisation fördert den Wettbewerb zwischen Kantonen, Versicherern sowie Leistungserbringern und damit die Entwicklung neuer Lösungen. Tatsächlich entstehen in allen Regionen neue Initiativen. So kooperieren das Ensemble Hospitalier de la Côte (EHC) und der Krankenversicherer CSS mit dem Ziel einer integrierten Versorgung, im Berner Jura wird das Réseau de l’Arc von einem Versicherer, einer Spitalgruppe und dem Kanton Bern unterstützt, und im Kanton Graubünden ist zum Beispiel im Engadin und Prättigau eine integrierte Versorgung von der Geburt bis zur Langzeitpflege aus einer Hand gewährleistet.

Überdies brachte der Wettbewerb die Krankenversicherer dazu, alternative Versicherungsmodelle anzubieten, die als erste Anlaufstellen die Hausarztpraxen, eine telemedizinische Beratung oder Apotheken vorsehen. Diese Angebote nutzen heute mehr als drei Viertel der Versicherten.

Flexible Anpassung an lokale Bedürfnisse

Der Föderalismus ermöglicht den Kantonen, das Gesundheitswesen einschliesslich finanzieller Aspekte nach den lokalen Prioritäten zu gestalten. So können sie die Prämienverbilligungen an ihre kantonalen Ziele anpassen (siehe Grafik Seite 8).

Beispielsweise ist die Höhe der Krankenversicherungsprämien im Kanton Waadt auf 10 Prozent des Haushaltseinkommens begrenzt. Dank dieser Regelung profitierten 2023 rund 36 Prozent der Waadtländer Bevölkerung von Prämienverbilligungen (der schweizerische Durchschnitt liegt bei 28 Prozent). Andere Kantone wie Basel-Landschaft setzen auf gezieltere Unterstützung: Zwar waren nur 20 Prozent der Bevölkerung anspruchsberechtigt, diese erhielten jedoch mit etwa 260 Franken pro Monat und Person höhere Verbilligungen als Versicherte in der übrigen Schweiz (mit durchschnittlich 200 Franken). Die spezifischen Ansätze verdeutlichen die verschiedenen regionalen Prioritäten und Anforderungen.

260 Franken betrug die durchschnittliche Prämienverbilligung im Kanton Basel-Landschaft. Damit war sie höher als in der übrigen Schweiz

Schuhgrösse 43 für alle Versicherten?

Natürlich kann ein dezentrales System zu Doppel­spurigkeiten führen und kleine Strukturen aufrechterhalten, die weder profitabel sind noch eine Spezialisierung erlauben. Doch wäre eine Vereinheitlichung tatsächlich wirtschaftlicher, und falls ja, zu welchem Preis?

Ein Vergleich: Würden wir der gesamten Bevölkerung die gleiche Schuhgrösse vorschreiben, könnten wir durch den Skaleneffekt Kostensenkungen erzielen. Aber würden sich alle Bürgerinnen und Bürger in diesen Schuhen wohlfühlen? Natürlich sind die Ansprüche an die Gesundheitsversorgung überall ähnlich. Für die Erfüllung dieser Wünsche müssen jedoch, je nach geografischem, kulturellem und sozialem Kontext, die Verflechtungen zwischen professionellen und ehrenamtlichen Leistungserbringern einer Region berücksichtigt werden.

Vor allem glauben oft die Befürworter einer zentralen Steuerung des Gesundheitssystems, dass sich das beste Modell, das heisst «ihre Lieblingsschuhgrösse», in der ganzen Schweiz durchsetzen wird. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird indes das Modell gewinnen, das bei Lobbys und Parteien am meisten Zuspruch findet. Eine Vereinheitlichung auf Grundlage der Bedürfnisse der Genfer oder der Zürcher Bevölkerung würde den Einwohnerinnen und Einwohnern ländlicher Gebiete, die derzeit von geringeren Prämien profitieren, wohl kaum gefallen.

36 % der Waadtländer Bevölkerung profitierten 2023 von Prämien­verbilligungen.

Kantönligeist als Gefahr

Natürlich sind auch die Nachteile des Föderalismus nicht von der Hand zu weisen. Öffentliche Spitäler, häufig die grössten Arbeitgeber einer Region, stehen im Fadenkreuz von Interessenkonflikten. Bei der Festsetzung der Spitaltarife müssen die kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren die Interessen der Bürgerinnen und Bürger gegen die finanzielle Absicherung der Spitäler abwägen: Letztere streben einen möglichst hohen Tarif an, während sich Erstere möglichst tiefe Tarife und damit niedrige Prämien wünschen.

Oft setzt sich die Stimme des Spitalpersonals (mit seinem grossen politischen Gewicht) durch und veraltete oder redundante Strukturen werden teilweise beibehalten. Zu viele Spitäler nehmen komplexe Eingriffe vor, obwohl sie die Mindestfallzahlen zur Qualitätssicherung nicht erzielen. Einer Studie¹ zufolge erreichen mehr als die Hälfte der Schweizer Spitäler den von der Gesundheitsdirektorenkonferenz empfohlenen Schwellenwert nicht, führen die Eingriffe aber trotzdem durch.

Kantonale Verbilligungen nach Mass

Einige Kantone gewähren gezieltere, dafür im Vergleich zum landesweiten Schnitt höhere Prämienverbilligungen (links oben), während andere einem Grossteil der Bevölkerung ge­ringere Prämienverbilligungen gewähren (rechts unten).

Plädoyer für einen effizienteren Föderalismus

Das Ziel sollte daher sein, statt des Föderalismus den Kantönligeist infrage zu stellen. Zuerst muss die Governance öffentlicher Spitäler verbessert werden, um Fehlentwicklungen zu korrigieren. Ein flexibler rechtlicher Rahmen nach dem Modell einer (gemeinnützigen) Aktiengesellschaft könnte zur Effizienzsteigerung beitragen, ebenso eine Unternehmensführung, welche die politische Einflussnahme begrenzt, indem die Anzahl Verwaltungsratsmandate aufgrund der Parteifarben reduziert wird.

Grosse Bedeutung hat zudem die interkantonale Zusammenarbeit innerhalb einer Gesundheitsregion: Initiativen wie das Hôpital Riviera-Chablais in den Kantonen Waadt und Wallis oder die gemeinsame Spitalplanung in der Ostschweiz (St. Gallen, Appenzell Innerrhoden und Appenzell Ausserrhoden) zeigen, dass regionale Kooperationen Lösungen hervorbringen, die in der Bevölkerung auf mehr Akzeptanz stossen.

Ein entscheidender Punkt ist schliesslich die Transparenz bezüglich der Qualität der medizinischen Versorgung. Viel zu oft verwechselt die Bevölkerung Nähe mit Qualität. Damit die Effizienz der Spitäler beurteilt werden kann, braucht es klare Indikatoren, die Aussagen über die Ergebnisse bei bestimmten Krankheitsbildern (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs etc.) zulassen. Transparenz auf diesem Gebiet würde dort, wo besonderes Know-how vorhanden ist, die Spezialisierung fördern, und dort zu intra- und interkantonalen Kooperationen anregen, wo es diese braucht.

Statt dem Ruf nach Zentralisierung des Gesundheitswesens nachzugeben, sollten wir die Stärken des Föderalismus ausschöpfen und seine Schwächen korrigieren. Dieser Ansatz birgt das Potenzial für ein innovatives und flexibles Gesundheitssystem, das auch die lokalen Bedürfnisse der Bevölkerung berücksichtigt. 

1 Fallzahlen in Spitälern und Kliniken für ausgewählte Eingriffe im Jahr 2022 von santésuisse vom 7. September 2024.

Jérôme Cosandey

promovierte an der ETH Zürich und hält einen Master der Universität Genf in internationaler Wirtschaftsgeschichte. 1998–2005 Tätigkeit bei einem internationalen Beratungsunternehmen, danach in leitender Stellung bei einer Grossbank. Seit 2018 ist er Directeur romand und Forschungsleiter Finanzierbare Sozialpolitik bei Avenir Suisse.

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