Den Kompass neu justieren

Wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich. Die WZW-Kriterien sind ein sinnvoller Wegweiser für medizinische Leistungen. Allerdings gleicht es manchmal einem Spagat, sich in diesem Dreieck sinnvoll zu bewegen. Erst recht angesichts laufend neuer Therapien und Medikamente, die auf den Markt kommen, und den damit einhergehenden neuen Möglichkeiten. Zwar mag in vielen Fällen die Wirksamkeit durchaus gegeben sein. Allerdings stellt sich oft die Frage: Ist das auch noch sinnvoll?
Leistungskatalog begrenzen – aber wie?
Entspricht der heutige Leistungskatalog noch den ursprünglichen Regeln? Braucht es Begrenzungen und wie könnten diese aussehen?

Aufklären und beraten
Bei dieser Frage nehmen Grundversorgerinnen und Grundversorger eine wichtige Rolle ein. Ihnen kommt die Aufgabe zu, ihre Patientinnen und Patienten aufzuklären und zu beraten. Damit tragen sie massgeblich dazu bei, die vorhandenen Mittel effizient und effektiv einzusetzen, unnötige Behandlungen zu vermeiden und damit das Gesundheitssystem zu entlasten. Oft kommen Patienten «dank» Recherchen im Internet mit diffusen Ängsten oder bereits mit klaren Vorstellungen, wie eine Behandlung aussehen sollte, in die Praxis. Doch nicht immer braucht es gleich den Gang zum Spezialisten oder ein MRI. Hier ist dann Überzeugungsarbeit und manchmal auch psychologisches Fingerspitzengefühl nötig, um das Gegenüber von besseren Alternativen zu einer unnötigen Behandlung oder Abklärung zu überzeugen.
«Die Leitlinien der Fachgesellschaften orientieren sich zu oft am Machbaren und nicht am medizinisch Sinnvollen.»
Martin Sigg
Laufend strengere Richtlinien
Häufig besteht das Dilemma auch darin, die Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften zu erfüllen. Diese Leitlinien geben den behandelnden Ärzten Handlungsempfehlungen und Therapieziele standardmässig vor. Leider orientieren sich diese Zielvorgaben aus meiner Sicht als Hausarzt zu oft am Machbaren und nicht am medizinisch Sinnvollen. Dies verleitet in Kombination mit einem Sicherheitsdenken der verschreibenden Ärztinnen und Ärzte dazu, dass häufig mehr gemacht wird, als medizinisch notwendig wäre.
WZW für alle gleich – fragwürdig?
Hier können wir wieder den WZW-Faden aufnehmen. So sinnvoll die Kriterien im Kern sind, so fragwürdig ist es, sie über sämtliche Altersgruppen hinweg gleich anzuwenden. Angesichts der bereits hohen und voraussichtlich noch weiter steigenden Lebenserwartung stellen sich hier ethisch heikle Fragen. Besonders bei hochbetagten Patienten ist eine Lebensverlängerung nicht zwingend sinnvoll und im Interesse der Patienten. Dies vor allem bei pflegebedürftigen und gebrechlichen Patienten oder bei Patienten mit Beschwerden, welche die Lebensqualität beeinträchtigen. Hier ist eine differenzierte Betrachtung wichtig, welche die Zweckmässigkeit in Abhängigkeit von Lebensqualität und Lebenserwartung beurteilt.
Ritzen am Tabu
Mit dem zunehmenden medizinischen Wissen öffnet sich die Schere zwischen machbarer und sinnvoller Therapie immer weiter. Das Dilemma, in dem die Ärzteschaft und die Gesellschaft stecken, wird dadurch immer grösser. Und auch die finanziellen Mittel sowie andere benötigte Ressourcen – z. B. die Fachkräfte – sind nur begrenzt vorhanden. Deshalb brauchen wir dringend einen offenen gesellschaftspolitischen Diskurs darüber, wo die Gesellschaft wie viel in die Gesundheit der Bevölkerung zu investieren bereit ist und wie die vorhandenen Mittel in unserem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem effizient und zum Wohle der Gesamtbevölkerung eingesetzt werden können. Ein grosses Tabuthema in der Gesellschaft und auch in der Politik.
Vielleicht hilft es bereits, wenn jede und jeder einmal folgendes Gedankenexperiment für sich macht: Will ich bei guter Lebensqualität 75-jährig an einer akuten Krankheit sterben, sogar wenn diese heilbar wäre oder dank Lebensverlängerung durch die medizinischen Künste lieber mit 85 Jahren versterben, allenfalls nach Jahren mit einer belastenden chronischen Krankheit?