Datenchaos im Gesundheitssystem
Über die Gesundheitskosten und ihre wohlbekannten Ursachen, die niemand wirklich anzugehen wagt, muss man nicht noch einmal diskutieren. Digitalisierung und künstliche Intelligenz gelten als Wunderlösungen und werden von allen Akteuren des Gesundheitswesens unterstützt. Neu sind sie aber nicht, vielmehr setzen die USA, Grossbritannien, skandinavische sowie zahlreiche weitere Staaten sie schon seit längerer Zeit ein.
Blindflug beim Sammeln von Daten
Unser Gesundheitssystem pflegt keinen einheitlichen Umgang mit Daten und verursacht Mehrkosten sowie Über- und Fehlversorgung.
Die Digitalisierungsrate der Gesundheitsakten ist wesentlich höher als oft behauptet: Sie liegt bei etwa 80 Prozent, steigt seit zehn Jahren stetig und widerlegt damit die Meinung, wonach die Schweiz «im Verzug» sei. Denn nicht die «Digitalisierung» ist das Problem, sondern deren wuchernde, «unkontrollierte» Entwicklung.
Die Digitalisierung führt zwangsläufig zu einer grossen Datenmenge, aber in unserem System sind die Daten ungeachtet des Zwecks kaum verwendbar. Selbst für einfachste Aufgaben können wir sie oft nur beschränkt nutzen. Jede vertiefte Auseinandersetzung (Studie, Register, Umfrage etc.) setzt die Entwicklung spezifischer Workflows, Systeme, Datenbanken und Datenfusionsprozesse voraus, nicht selten braucht es eine manuelle Erfassung und Bearbeitung, was Kosten und Fehler verursacht. Ganz abgesehen von Bewilligungen und/oder Anforderungen seitens Ethikkommissionen.
Daten haben ihren Preis
Die Digitalisierung hat zudem wesentlich zum Anstieg des administrativen Aufwands im Gesundheitswesen beigetragen, und zwar je nach Beruf in unterschiedlichem Mass. Mehreren Studien zufolge ist die Ärzteschaft am stärksten betroffen. Wenger et al. halten fest, dass Assistenzärztinnen und -ärzte im CHUV durchschnittlich 11,6 Stunden pro Tag arbeiten, davon 1,7 Stunden mit Patientinnen und Patienten und 5,2 Stunden am Computer. In der verbleibenden Zeit sind sie mit anderen Fachpersonen, Teamarbeit, Telefongesprächen etc. beschäftigt. 52 Prozent der täglichen Arbeitszeit wird von Aktivitäten beansprucht, die nur indirekt mit der Patientenbetreuung im Zusammenhang stehen.1 Die Daten haben also ihren Wert, aber zu einem hohen Preis, auch in Bezug auf die gegenwärtige Identifikations- und Motivationskrise bei Gesundheitsfachpersonen.
«5,2 Stunden pro Tag arbeiten Assistenzärzten und -ärzte des CHUV am Computer.»
Die Gesundheitsdaten spielen eine entscheidende Rolle, um Gesundheit und Krankheiten zu verstehen, neue Therapien und innovative Prävention zu entwickeln, systembedingte Risiken im Zusammenhang mit Expositionsfaktoren zu ermitteln, Behandlungsqualität und Patientenbetreuung zu messen, auszuwerten und zu verbessern, Prozesse zu vergleichen, Überarztung und inadäquate Behandlungen zu reduzieren und schliesslich, um Qualität als Lenkungsprinzip im Gesundheitswesen anzuwenden. Sie sind unverzichtbar für die partnerschaftliche Beziehung mit den Patientinnen und Patienten, einem Schwerpunkt in der europäischen Strategie zu Gesundheitsdaten. Doch dieser fehlt im Programm DigiSanté des Bundesrates, das die wichtige Rolle der Patientinnen und Patienten leider ebenso vernachlässigt wie die Ausbildung.
Ein wichtiges Element des KVG stellen die WZW-Kriterien (Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit) im Sinn von Artikel 32 dar, die zu den Voraussetzungen für die Leistungsübernahme durch die obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) zählen. Die vom BAG veröffentlichten Massnahmen zur Operationalisierung der WZW-Kriterien lassen die Kernfragen, wie zum Beispiel welche Gesundheitsdaten denn nötig sind, ohne Antwort.
«52 Prozent der täglichen Arbeitszeit steht nur in indirektem Zusammenhang mit der Patientenbetreuung.»
Ein Datensatz für jede Situation
Diese Situation ist die Ursache der gegenwärtigen Fehlentwicklungen in der Data Governance. Jeder Akteur betrachtet ein Problem aus einem anderen Blickwinkel. Welche Daten braucht es im Pandemiemanagement? Und welche im Fall eines Erdbebens? Oder eines Chemieunfalls? Und was auf eine Personengruppe zutrifft, soll auf jedes Individuum angewendet werden. Doch welches sind die besten Daten, um bei einer jungen Frau oder bei einer 60-jährigen Person mit kardiovaskulären Risikofaktoren Unterleibsschmerzen zu beurteilen, etwa nach einer Darmkrebsbehandlung? Es gibt für jede Situation einen relevanten Datensatz. Und dieser steht in einem Zusammenhang mit dem bayesianischen, probabilistischen Charakter von klinischen Phänomenen sowie mit der Möglichkeit, ein Risiko in einem probabilistischen Kontext verlässlich abzuschätzen und die Bewertungskosten und die Aussagekraft der Ergebnisse, etwa bezüglich gewisser Therapien, einzubeziehen.
Das Problem ist die Teilbarkeit
Die Frage nach den notwendigen Daten betrifft zahlreiche weitere Bereiche, wie beispielsweise die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen oder die Auswertung der Betreuungsleistungen für eine effiziente Versorgung.
Jede Fragestellung verlangt spezifische Daten und muss individuell bearbeitet werden. Statt die Diskussion ergebnislos weiterzuführen, sollte man die Situation unter dem Gesichtspunkt der grundsätzlichen Wiederverwendbarkeit von Daten betrachten. Und an diesem Punkt werden die regulatorischen und technischen Hindernisse relevant. Aus der Anwendung des Epidemiegesetzes und der damit einhergehenden Beseitigung regulatorischer Hindernisse resultiert eine wichtige Erkenntnis: Die Datennutzung wurde nicht verbessert, es herrscht weiterhin ein Chaos. Das Hauptproblem ist nicht der Zugriff auf die Daten, aber deren Nutzung, wenn sie zur Verfügung stehen.
Es geht also darum, eine Umgebung zu schaffen, in der alle Gesundheitsdaten geteilt werden können, die es zu einem bestimmten Zeitpunkt für einen bewilligten Zweck braucht. Auf dieser Basis können konkretere Fragen diskutiert werden:
- Wie gross ist das benötigte Datenvolumen?
- Wie können Bedingungen für einen Datenzugriff ohne technische Hürden geschaffen werden?
- Welche Voraussetzungen braucht es, um ein solches System zu aktivieren und Daten zu erhalten?
- Wie kann der regulatorische Rahmen dafür geklärt werden?
- Welche Schritte sind nötig, um dieses System zu operationalisieren?
Damit kann ein wichtiges strategisches Ziel gesetzt werden. Es geht nicht darum, Gesundheitsdaten zu teilen, sondern, den technischen und semantischen Rahmen zu schaffen, damit diese Daten teilbar sind. Mit diesem Paradigmenwechsel wird es einerseits möglich, die seit der Einführung des KVG in der Schweiz diskutierten Fragen zu umgehen, wer worauf und warum zugreifen darf. Und andererseits kann eine Strategie sowie die Implementierung von Rahmenbedingungen geplant werden, die für jede begründete Situation den einfachen und transparenten Datenaustausch erlauben. Eine entscheidende Voraussetzung für dieses Paradigma sind verbindliche technische und semantische Interoperabilitätsstandards für alle Anbieter von digitalen Gesundheitslösungen in der Schweiz. Geschäftsstrategien stehen der Verwendung solcher Standards aber eher entgegen.
Hyperstrukturierung entfällt
Sind Letztere erst einmal eingeführt, müssen Daten nicht mehr hyperstrukturiert werden. Die Tendenz, medizinische Daten zu hyperstrukturieren, wird durch die rasante Entwicklung grosser Sprachmodelle (Large Language Models, LLM) infrage gestellt. In Bezug auf die Erfassungszeit und den Informationsgehalt sind Hyperstrukturen teuer, zudem wird diese Tendenz von den heutigen KI-Technologien überholt und hat kontraproduktive Folgen.
Kurz gesagt, der Markt für IT-Systeme muss saniert und national ausschliesslich auf Systeme mit technischen und semantischen Interoperabilitätsstandards beschränkt werden. Zudem braucht es Klärung in Bezug auf den Informationsbedarf für die verschiedenen Verwendungszwecke sowie einen einfacheren Informationsfluss. Schliesslich müssen innovative Visionen für die Datenverwaltung umgesetzt und die Möglichkeiten der KI erforscht, bewertet und genutzt werden. Wenn wir diese Ziele erreichen, steht uns ein effizientes System für den Austausch medizinischer Daten zur Verfügung, das sich positiv auf die Qualität der medizinischen Leistungen auswirkt und so eine übertriebene und unangemessene Versorgung verhindert.
1Ann Intern Med. 2017; 166:579-586. doi:10.7326/M16-2238