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«Das Gesundheitswesen ist auch Service public»

Wie schafft es die Schweiz, die Ambulantisierung voranzutreiben? Der Baselbieter Gesundheitsdirektor Thomi Jourdan (EVP) wäre bereit, einen Teil der tieferen ambulanten Tarife zu kompensieren. Für H+-Direktorin Anne-Geneviève Bütikofer sind grundsätzliche tarifarische Anpassungen dringlicher.

Anne-Geneviève Bütikofer, Direktorin des Spitalverbands H+

Thomi Jourdan, conseiller d’Etat et directeur de la santé du canton de Bâle-Campagne

Patrick Rohr, Journalist und Moderator

24. Juni 2025

Anne-Geneviève Bütikofer, bedeutet eine verstärkte Ambulantisierung nicht den schleichenden Tod unserer Spitäler?

Anne-Geneviève Bütikofer: Auf keinen Fall! Natürlich haben wir die Herausforderung, dass ein Spital gemäss Gesetz vor allem ein Anbieter statio­närer Leistungen in festen Mauern ist. Doch in der Realität erbringen unsere Spitäler schon heute sehr viele ambulante Leistungen und sie werden sich auch weiterhin in diese Richtung entwickeln. Die Förderung der Ambulantisierung ist ganz klar unser Ziel.

Und trotzdem hat die Schweiz eine der tiefsten Ambulantisierungsraten der Welt.

Anne-Geneviève Bütikofer: Es stimmt, wir sind noch weit weg von unserem Ziel. Aber es führt kein Weg daran vorbei, alle möchten eine verstärkte Ambulantisierung, die Politik wie auch die Bevölkerung. Die Vorteile liegen auf der Hand: eine kürzere Aufenthaltsdauer im Spital, was zur Entlastung des Spitalpersonals, zu tieferen Infektionsraten und zu tieferen Infrastrukturkosten führt. Von daher ist es klar: Die Ambulantisierung ist die Zukunft, aber wir werden natürlich nie ganz auf das stationäre Spital verzichten können. Es müssen einfach die richtigen Fälle stationär behandelt werden.

Herr Regierungsrat, die Schweiz hat einen Ambulantisierunsgrad von 20 Prozent, während er in vergleichbaren Ländern in Europa bis zu dreimal so hoch ist. Wieso sind wir davon weit entfernt?

Thomi Jourdan: Es hat damit zu tun, dass alle Beteiligten in unserem Gesundheitssystem noch in einem alten Mindset verhaftet sind. Wir stecken in alten Regulatorien, in alten Kostenwelten, die keine ausreichende Grundlage für eine zukunftsgerichtete Versorgung sind. Wir müssen von der Spitalplanung hin zu einer integrierten Versorgungsplanung kommen. Und wir brauchen die richtigen Anreizstrukturen. Es gibt heute für niemanden einen Grund, etwas zu verändern. Der Leistungs­erbringer wird für die ambulante Behandlung eines Falles deutlich schlechter vergütet, als wenn er ihn stationär behandelt. Und der Kunde sagt: «Ich zahle hohe Prämien, also gehe ich nicht dorthin, wo die Gefahr besteht, dass ich nicht alles bekomme.»

Sondern dorthin, wo ich von Anfang an die volle Leistung habe?

Thomi Jourdan: Genau, zumindest gefühlt. Und schliesslich sind da noch die Versicherungen, die vor EFAS – der einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen – wenig Anreize hatten, etwas zu verändern, weil die Kantone einen Grossteil der stationären Kosten trugen.

Ändert sich das mit der Einführung von EFAS, Frau Bütikofer?

Anne-Geneviève Bütikofer: Ohne adäquate Finanzierung ändert auch EFAS nichts. Wenn wir im ambulanten Bereich weiterhin wie bisher eine Unterdeckung haben, hat niemand ein Interesse daran, die Ambulantisierung voranzutreiben. Kein Gesundheitsdirektor will, dass seine Betriebe Verluste schreiben. Wenn die Kantone also künftig auch im ambulanten Bereich mitzahlen, sollten sie auch ein Interesse daran haben, dass dieser kosten­deckend ist.

Immerhin gibt es jetzt mit Tardoc und den neuen Fallpauschalen für den ambulanten Bereich ein neues Tarifmodell. Löst das die Probleme nicht?

Anne-Geneviève Bütikofer: Längerfristig schon, das ist natürlich die Idee. Aber solange wir eine Kostenneutralität haben, also die Tarife nicht erhöhen dürfen, werden wir weiterhin grosse Verluste schreiben. Ein Grund dafür ist, dass der Bundesrat bei den ambulanten Leistungen eine Kostendeckelung von 4 Prozent vorsieht, im Wissen, dass das normale Kostenwachstum für ein Spital 7 Prozent beträgt. Dieses Problem müssen wir lösen, sonst haben wir weiterhin Fehlanreize im System und es wird weiterhin zu mehr Leistungen im stationären Bereich kommen.

Was nicht im Sinne des Erfinders ist.

Thomi Jourdan: Tatsächlich müssen alle Beteiligten die Ambition haben, ein neues System in Gang zu bringen, und dafür braucht es die Bereitschaft, sich mit einem hohen Mass an Komplexität auseinanderzusetzen. Dazu gehört zum Beispiel die Erkenntnis, dass ein Spital zwar temporär Verluste produzieren kann, sich das letztlich aber positiv auf die Gesundheitskosten auswirkt.

Das müssen Sie erklären.

Thomi Jourdan: Ambulante Behandlungen sind aus Gesundheitskostensicht zwar günstiger als stationäre Behandlungen, aber sie sind oft nicht kostendeckend. Das bedeutet unter Umständen, dass das Spital eine negative Jahresrechnung vorlegen muss – und das ist aus Kantonssicht natürlich nicht ideal.

Damit bleiben die Spitäler für die Kantone die grossen schwarzen Finanzlöcher, die sie schon heute sind?

Thomi Jourdan: Als wirtschaftsfreundlich und liberal denkender Mensch anerkenne ich, dass das Gesundheitswesen auch ein Service public ist. Das heisst, ich bin bereit, der Bevölkerung eine erweiterte Grundversorgung zur Verfügung zu stellen, auch wenn das etwas kostet.

Sie wären also bereit, die von Frau Bütikofer angesprochene Unterdeckung zu decken?

Thomi Jourdan: Wenn es für das Gesamtsystem besser wird, wieso nicht? Ich bin dabei, zu prüfen, ob wir einen kantonalen ambulanten Tarif einführen wollen. Das heisst, wir würden als Kanton mit einem Zusatztarif die Differenz zwischen den stationären und den ambulanten Tarifen verkleinern, sodass es einen Anreiz gibt, die sogenannten Kippfälle nicht mehr stationär, sondern eben ambulant zu behandeln. Dafür brauchen wir kein neues Geld, sondern setzen einen Teil jenes Geldes ein, das wir bei den stationären Aufenthalten sparen.

Was nicht wirklich eine Einsparung bringt?

Thomi Jourdan: Doch, natürlich, denn die ambulanten Leistungen bleiben auch mit einem Zusatztarif günstiger. Heute ist die Differenz aber so gross, dass es für die Leistungserbringer keinen Anreiz gibt, die Ambulantisierung zu forcieren. Und das müssen wir verändern.

Anne-Geneviève Bütikofer: Es braucht einfach dringend eine Anpassung der ambulanten Tarife an die tatsächlichen Kosten, denn wenn die Kantone die Unterdeckung weiterhin einfach auf ihre Art finanzieren, gibt es keine Änderung im System. Schon heute optimiert jeder Kanton die Rechnung auf seine Art, aber das kann es nicht sein.

Und wenn Sie das jetzt auch im ambulanten Bereich machen, Herr Jourdan, ändert sich an diesem Systemfehler genau gar nichts.

Thomi Jourdan: Natürlich wäre eine strukturelle Änderung auf tarifarischer Ebene wichtig. Aber solange wir das nicht schaffen, müssen wir auf Kantonsebene unsere Möglichkeiten nutzen, um die Ambulantisierung zu stärken.

Was wieder zu einem gewaltigen Flickwerk führen wird. Frau Bütikofer, bräuchten wir nicht einen gemeinsamen Weg?

Anne-Geneviève Bütikofer: Eine Gesamtlösung im Sinne einer nationalen Lösung fände ich schwierig. Das entspricht nicht unserem föderalistischen System. Die Gesundheitshoheit liegt bei den Kantonen. Aber das heisst natürlich nicht, dass sie nicht zusammenarbeiten müssen. Wir müssen verstärkt regional, überregional und überkantonal zusammenarbeiten, um in dieser Transformation, in der sich die Gesundheitslandschaft befindet, neue Modelle und neue Wege zu finden.

Und machen die Kantone in dieser Hinsicht schon genug, Herr Jourdan?

Thomi Jourdan: Ich finde nicht. Wir müssen auch gegenüber der Bundespolitik klar machen, dass die Diskussion um die Spitalplanung viel zu kurz greift. Die Medizin wird vielfältiger, es gibt neue technologische Möglichkeiten. Solange wir als Kantone weiterhin eine rein auf die stationären Fälle ausgerichtete Spitalplanung machen, nehmen wir die Komplexität des Systems nicht auf und zeigen auch nicht, dass wir bereit sind, uns dieser Komplexität zu stellen.

Machen denn die Spitäler Ihrer Meinung nach genug, um die Ambulantisierung voranzutreiben?

Thomi Jourdan: Nein, auch die Spitäler machen nicht genug, weil die deutlich höheren stationären Abgeltungen sie dazu verleiten, möglichst viel im stationären Bereich zu leisten, und das ist aus Gesundheitskostensicht falsch. Aber wir müssen viel weiter denken. Wir haben zum Beispiel noch gar nicht über die Gesundheitszentren geredet, die wir schaffen möchten, also dezentrale, gut ausgerüstete ambulante Angebote mit erweiterten Öffnungszeiten. Mit diesen wird die Notwendigkeit, in die teuren stationären Strukturen zu gehen, viel kleiner. Ergänzend dazu brauchen wir eine Stärkung der Telemedizin und eine verstärkte Einbindung der Apotheken als niederschwellige Zugangspunkte.

Womit ich zu meiner Ausgangsfrage zurückkomme, Frau Bütikofer: Nimmt mit der Ambulantisierung die Bedeutung der Spitäler nicht massiv ab?

Anne-Geneviève Bütikofer: Ich höre hier etwas anderes heraus, nämlich, dass die Spitäler das Zentrum sind, mit einer anderen Rolle als heute, mit neuen Zusammenarbeitsformen mit neuen Partnern, aber als Zentrum des Ganzen. Wir müssen in neuen Strukturen denken, Hospital at Home zum Beispiel, Leistungen, die näher beim Wohnort erbracht werden, und so weiter.

Und was geschieht mit den ganzen Spitalbauten, die wir nun einmal haben?

Anne-Geneviève Bütikofer: Die werden wir anders verwenden. Es braucht auch für ambulante Leistungen Räumlichkeiten, wir werden die Patienten ja nicht im Freien betreuen.

Thomi Jourdan: Diese Frage stellen wir uns natürlich auch. Wir stehen vor einer grossen Investitionsentscheidung für unser Kantonsspital und selbstverständlich treibt mich die Frage um, ob wir nicht zu gross bauen, wenn wir die Ambulantisierung nicht nur um 10 oder 20, sondern vielleicht sogar um 30 Prozent steigern wollen. Wir müssen einfach intelligent bauen, sodass wir die bestehende Infrastruktur vielleicht in 30 Jahren neu nutzen können.

Anne-Geneviève Bütikofer: Dieser Prozess ist ja schon längst im Gange. In den 1980er-Jahren hatten wir doppelt so viele Spitäler wie heute und wir haben nicht einfach alle Gebäude abgerissen, sie werden heute einfach anders genutzt.

Kurzfristig bleibt aber das Problem, dass die Spitäler gigantische Defizite machen. Was muss geschehen, damit sie überleben, da wir uns sonst die ganze Diskussion sparen können?

Thomi Jourdan: Die Spitäler kämpfen mit dem Kostenschub der vergangenen Jahre, können aber auch noch fitter werden. Wir haben in den letzten eineinhalb Jahren unser Spital im Kanton sehr genau unter die Lupe genommen und viel Verbesserungspotenzial entdeckt. In der Folge haben wir dem Spital einen substanziellen Effizienzsteigerungsauftrag gegeben, der Bedingung dafür ist, dass wir als Kanton überhaupt über einen Finanzierungsbeitrag an die Infrastruktur nachdenken.

Anne-Geneviève Bütikofer: Ich sehe kurzfristig die Lösung darin, dass die Teuerung in den Tarifen abgebildet wird. Die Tarife sind nämlich heute nicht an die Teuerung gekoppelt. Das wäre eine Massnahme, die man sofort umsetzen könnte und die viel helfen würde. 

Anne-Geneviève Bütikofer

ist seit 2018 Direktorin des Spitalverbands H+. Die ausgebildete Juristin arbeitete davor unter anderem als Generalsekretärin der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH und als Generaldirektorin Gesundheit im Volkswirtschafts- und Gesundheitsdepartement des Kantons Genf.

Thomi Jourdan

est économiste de formation et, depuis 2023, chef de la direction de l’économie publique et de la santé du canton de Bâle-Campagne. Auparavant, il a été directeur des RH au département de la santé de la ville de Zurich et chef du service du personnel de l’hôpital Felix Platter à Bâle.

Patrick Rohr

ist Journalist, Moderator und Fotograf. Er leitet eine eigene Agentur für Kommunikationstrainings und Medienproduktionen in Zürich und reist als Fotojournalist für NGOs in die Krisengebiete dieser Welt. Bis 2007 war er Redaktor und Moderator beim Schweizer Fernsehen.

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