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Den Kostenanstieg ausbremsen

Die Kosten im Schweizer Gesundheitswesen steigen und steigen. Eine Kostenbremse mit verbindlichen Zielvorgaben könnte helfen, das Kostenwachstum zu begrenzen. Wie könnte eine solche Kostenbremse aussehen, und was würde sie bewirken?

Anna Vettori, Ökonomin und Bereichsleiterin und Partnerin bei INFRAS

Thomas von Stokar, Geschäftsleiter und Partner beim Beratungs- und Forschungsbüro INFRAS

Tilman Slembeck, Professor für Volkswirtschaftslehre an der ZHAW und ist Dozent an der Universität St. Gallen

25. Oktober 2018

Die steigenden Gesundheitskosten sind seit längerem in allen westlichen Ländern ein Thema. Eine eigentliche Kostenbremse im Sinne eines übergreifenden politischen Steuerungsinstruments existiert jedoch nicht. Der Versuch, das Kostenwachstum zu dämpfen, beruht stets auf einer Mischung verschiedener Massnahmen, angepasst an das jeweilige Gesundheitssystem. Dem Bild einer «institutionalisierten Bremse» kommen Länder mit einem sozialstaatlichen, steuerfinanzierten Gesundheitssystem (Beveridge-Modell) wie England oder Schweden am nächsten. In diesem System lässt sich die Kostensteuerung vergleichsweise einfach durchführen, indem die staatlichen Gesundheitsbudgets unmittelbar der politischen Kontrolle unterliegen.

Ansätze von Kostenbremsen finden sich auch in Ländern wie Deutschland und den Niederlanden, deren Gesundheitssysteme als Sozialversicherungssysteme (Bismarck-Modell) organisiert sind: In Deutschland bspw. unterliegt ein Anteil von 50 bis 80 Prozent der Leistungen vieler niedergelassener Ärzte einer Volumenbegrenzung, indem die kassenärztlichen Vereinigungen in jedem Bundesland jedem Vertragsarzt quartalsweise ein praxisbezogenes «Regelleistungsvolumen» (RLV) zuordnen. Ärzten, die das RLV überschreiten, werden die Leistungsbeträge gekürzt. In den Niederlanden gibt die Regierung Globalbudgets für die verschiedenen Leistungserbringergruppen vor. Bei einer Überschreitung kann die Regierung ex post lineare Budgetkürzungen gegenüber den Leistungserbringern durchsetzen.

Kostenbremsen haben prinzipiell eine hohe Wirksamkeit im Hinblick auf die Kostendämpfung. Sie bedeuten aber gleichzeitig eine Abkehr von der Situation, dass alle medizinischen Leistungen jederzeit und unbegrenzt zur Verfügung stehen. Insgesamt stellen Volumenbegrenzungen oder Globalbudgets auch in Sozialversicherungssystemen ein probates Mittel dar, um die Gesundheitskosten zu dämpfen. Das Ausland zeigt uns: In der Praxis fehlt oftmals der politische Wille zu einer konsequenten Umsetzung aufgrund des Widerstands der Betroffenen und teilweise auch der Bevölkerung, sodass die Ziele nicht immer erreicht werden. Deshalb ist für die Umsetzung von Kostenbremsen ein hoher Leidensdruck nötig.

Mögliche Ausgestaltung von Kostenbremsen

Kostenbremsen lassen sich durch zwei Hauptmerkmale charakterisieren: einen globalen Zielwert und einen Anpassungsmechanismus, der automatisch greift, wenn der Zielwert überschritten wird. Die Frage ist nun, wer einen solchen Zielwert nach welchem Massstab für welchen Bereich des Gesundheitswesens festlegt und wie genau der Anpassungsmechanismus funktionieren könnte, wenn der Zielwert überschritten wird. Nachfolgend stellen wir zwei denkbare Modelle vor:

Bei der Budgetsteuerung ist wegen möglichen «Trittbrettfahrens» davon auszugehen, dass letztlich bis auf die kleinste hierarchische Organisationseinheit (Praxis, Spital etc.) hinunter Budgets für die Leistungserbringer festgelegt werden. Bei der Tarifsteuerung erfolgt die Steuerung über die Preise, die Zielvorgaben bleiben damit auf der Ebene von Tarifsystemen wie TARMED, allenfalls mit einer gewissen Differenzierung nach Leistungserbringergruppen.

Festlegung der Zielwerte

Der globale Zielwert legt fest, wie stark die OKP-Kosten insgesamt steigen dürfen. Es dürfte am zweckmässigsten sein, wenn der Bund in Anhörung der Kantone und Tarifpartner (Leistungserbringer, Versicherer) einen solchen Zielwert nach vorgegebenen Kriterien festlegt, z.B. nach Massgabe der Vorjahreskosten, der Lohn- und Teuerungsentwicklung, der demografischen Entwicklung und des technisch-medizinischen Fortschritts. Gemäss wissenschaftlicher Literatur erscheint eine Zielvorgabe in der Schweiz in der Grössenordnung von real 2 bis 2,5 Prozent angemessen. Die OKP-Kosten umfassen dabei alle Kosten, die im Rahmen der Grundversicherung für die Versicherten entstehen, d.h. inklusive aller Selbstzahlungen der Versicherten und Beiträge der öffentlichen Hand (v.a. an Spitäler).

In einem ersten Schritt sind die Zielwerte für die wichtigsten OKP-Leistungskategorien – z.B. ärztliche Leistungen stationär und ambulant, Medikamente, Analysen etc. – festzulegen, und zwar sowohl auf Ebene der gesamten Schweiz wie auch auf Ebene der einzelnen Kantone. Hier erscheint es zweckmässig, den Tarifpartnern und Kantonen die Verantwortung für die Festlegung der Zielwerte zu übertragen und sich bei den Zuständigkeiten möglichst auf bestehende Kompetenzordnungen abzustützen. Der Zuordnung könnte eine ähnliche Berechnungsmechanik wie beim globalen Zielwert zugrunde gelegt werden, evtl. ergänzt mit weiteren Kriterien wie Patientenströmen und Angebotsspezialisierungen (z.B. Facharztdichte). Anschliessend können die Tarifpartner die Zielwerte nach Leistungserbringergruppen weiter ausdifferenzieren. Generell kann gelten: Falls sich die Tarifpartner nicht innert Frist einigen können, legt subsidiär der Bundesrat die entsprechenden Zielwerte fest.

Bei der Tarifsteuerung werden die Zielwerte so weit ausdifferenziert, wie es im Rahmen des Tarifsystems sinnvoll ist, z.B. für die ganze Gruppe der ambulanten Leistungserbringer unter dem Tarifsystem TARMED oder für einzelne Untergruppen (z.B. Fachärzte, Grundversorger etc.). Die Kostenbremse würde beim TARMED dann über eine Anpassung der Taxpunktwerte in den Folgejahren erfolgen. Werden Untergruppen gebildet, wäre eine Anpassung nach Untergruppen zu differenzieren.

Bei der Budgetsteuerung dürfte letztlich jeder Leistungserbringer von den zuständigen Verbänden (Facharztgesellschaften, kantonale Spitalverbände etc.) ein individuelles Budget zugewiesen erhalten. Basis für die Festlegung auf individueller Ebene sind die durchschnittlichen Kosten in den Vorjahren, bereinigt mit dem Schweregrad der Fälle, oder die Standardkosten pro Leistungserbringer-Einheit, d.h. die durchschnittlichen Kosten einer Arztpraxis mit einer bestimmten Grösse (Stellenprozente, Anzahl Patienten) in einer bestimmten Region. Damit bei Budgetüberschreitungen nicht unnötig Aufwand entsteht, weil die Leistungserbringer einen Teil ihrer Vergütungen zurückerstatten müssen, wird bei allen Leistungserbringern im laufenden Jahr ein Rückbehalt von z.B. 5 Prozent vorgenommen. Sobald alle Abrechnungen eines Jahres vorliegen, werden die Restbeträge bis maximal zur Budgethöhe ausbezahlt. Ähnliche Mechanismen wurden bereits bei der Einführung neuer Tarifstrukturen angewandt.

Grundsätzlich beinhalten die individuellen Budgets alle Kosten, die von den Leistungserbringern ausgelöst werden, also auch Medikamente, Laboranalysen etc. Denkbar ist, dass Leistungen, bei denen praktisch keine Anreize zur Mengenausweitung bestehen (z.B. Notfälle), aus dem Budget herausgenommen und separat vergütet werden. Verlagerungen von Budgets sollten möglich sein, z.B. wenn Grundversorger ihre Praxis aufgeben oder Arbeitspensen reduzieren.

Anreizwirkungen bei der Budgetsteuerung

Bei der Budgetsteuerung erhalten Leistungserbringer für Leistungen, die das Budget überschreiten, keine oder nur eine stark reduzierte Abgeltung. Sie werden deshalb versuchen, das Budget möglichst nicht zu überschreiten. Dies kann Anreize setzen, Behandlungen effizienter zu erbringen, indem sie nicht notwendige Leistungen reduzieren oder günstigere Behandlungsmethoden wählen. Sie können aber auch versucht sein, notwendige Leistungen vorzuenthalten (Rationierung durch den Arzt), schwierige Fälle abzulehnen (Risikoselektion) oder ihre Tätigkeit ganz einzustellen, wenn sie sehen, dass sie das Budget erreicht haben oder nächstens erreichen werden. Denkbar ist auch, dass die Leistungserbringer vermehrt Leistungen aus dem Zusatzversicherungsbereich abrechnen.

Anreizwirkungen bei der Tarifsteuerung

Werden die Zielwerte bei der Tarifsteuerung überschritten, werden nachträglich die Preise gesenkt. Dies kann zu strategischem Verhalten seitens der Leistungserbringer führen, indem sie die Kürzungen antizipieren und die Mengen ausweiten. Tarifsenkungen schaffen somit Anreize für Mengenausweitungen, was eine Spirale von Tarifsenkungen und Mengenausweitungen in Gang setzen kann.

Vor- und Nachteile der Modelle

Beide Modelle sind grundsätzlich umsetzbar und dämpfen das Kostenwachstum: die Budgetsteuerung zielgenau, die Tarifsteuerung in einem gewissen Ausmass. Beide Modelle verfügen über Vor- und Nachteile. Die Budgetsteuerung wäre in Bezug auf das Ziel der Kostendämpfung sehr wirksam. Sie ist aber in der Abwicklung komplexer und aufwendiger umzusetzen. Der Eingriff in die wirtschaftliche Tätigkeit der Leistungserbringer ist deutlich höher und dürfte auf einen höheren politischen Widerstand stossen. Es bleiben einige Fragen offen zu möglichen Nebeneffekten (Unterversorgung, Wartezeiten, Verlagerung zu Privatversicherung) und allfälligen Gegenmassnahmen. Es gibt keine Wirkung ohne Nebenwirkung, weshalb eine sorgfältige Abwägung zwischen beidem notwendig ist.

Die Tarifsteuerung durch Anpassung der Preise greift deutlich weniger in das Gesundheitssystem ein und ist einfacher umzusetzen. Die Möglichkeit, dass Leistungserbringer weiterhin Mengenausweitung betreiben, erfordert Begleitmassnahmen, damit die Kostendämpfungsziele erreicht werden können. Denkbar wäre im Prinzip, mit einer Tarifsteuerung einen ersten Schritt zu machen, gefolgt von einer Budgetsteuerung, falls sich die Tarifsteuerung als zu wenig wirksam erweist.

Anna Vettori

Anna Vettori ist Ökonomin und Bereichsleiterin und Partnerin bei INFRAS. Sie ist Spezialistin für ökonomische Analysen, schwergewichtig in den Bereichen Gesundheit und Energie.

Thomas von Stokar

Thomas von Stokar ist dipl. Sozial- und Wirtschaftsgeograf und Geschäftsleiter und Partner beim Beratungs- und Forschungsbüro INFRAS. Er ist Experte für soziale und ökonomische Wirkungsanalysen, Policy-Analysen und Evaluationen, u.a. in den Themenfeldern Gesundheits- und Sozialpolitik.

Tilman Slembeck

Prof. Dr. et mag. oec. HSG Tilman Slembeck forscht und unterrichtet als Professor für Volkswirtschaftslehre an der ZHAW und ist Dozent an der Universität St. Gallen. Er war Mitglied der Expertengruppe des Bundesrates, die den Bericht zu Kostendämpfungsmassnahmen zur Entlastung der OKP erarbeitet hat.

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