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«Keine andere Zwangsabgabe wird einfach so erhöht»

Sind Zielvorgaben und ein Globalbudget wirksame Kostenbremsen? FMH-Präsident Jürg Schlup wehrt sich heftig gegen die Vorschläge der vom Bund eingesetzten Expertengruppe. Im Streitgespräch hält der eidgenössische Finanzdirektor Serge Gaillard als Mitglied der Expertengruppe dagegen.

Serge Gaillard, Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung

Jürg Schlup, ehemaliger Präsident der Verbindung der Schweizer Ärzte (FMH)

Patrick Rohr, Journalist und Moderator

25. Oktober 2018

Patrick Rohr (PR): Herr Schlup, warum dieser Widerstand der FMH gegen die Idee der Expertengruppe, Zielvorgaben und ein Globalbudget einzuführen?
Jürg Schlup (JS): Der Expertenbericht beinhaltet 38 Massnahmen. Wir sagen zu 20 Massnahmen Ja, zu einigen sagen wir nichts – und nur zu zwei Massnahmen sagen wir klar Nein, weil sie zulasten des Patienten gehen: zum Kostendeckel und zum Globalbudget. Ein Globalbudget führt zu Nachteilen für den Patienten, und es ist nicht nachgewiesen, dass es Kosteneinsparungen gibt. Die Länder, die bereits ein Globalbudget eingeführt haben, haben genau die gleichen Kostenanstiege wie wir. Es gibt keine Belege, dass ein Globalbudget hilft, Kosten zu sparen. Es ist ein Medikament mit sehr vielen Nebenwirkungen und mit sehr wenig Wirkung.

PR: Herr Gaillard, Sie waren als Finanzchef des Bundes Mitglied der Expertengruppe und haben als Volkswirtschaftler das Globalbudget als wirksame Methode verteidigt. Ihr Hauptargument: Es ist nicht richtig, wenn die Gesundheitskosten im Jahr etwa um 4,5 Prozent steigen, das Bruttoinlandprodukt, das BIP, hingegen nur um 2,7 Prozent.
Serge Gaillard (SG): Ich kam tatsächlich als Finanzpolitiker in diese Expertenkommission und nicht als Gesundheitsspezialist. Das hat damit zu tun, dass das Kostenwachstum des Gesundheitswesens das grösste finanzpolitische Problem der Schweiz ist. Sie haben es gesagt, wir haben jedes Jahr einen Zuwachs der Kosten um 4,5 Prozent, und das in einer Zeit, in der wir keine, ja zeitweise sogar eine negative Teuerung hatten! Die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen belastet die Haushalte, die privaten und die öffentlichen. So kann es nicht weitergehen. Und weil sehr viele Länder um uns herum das gleiche Problem haben, haben praktisch alle angefangen, politische Vorgaben zu definieren, um wie viel die Kosten wachsen dürfen.

PR: Herr Schlup wendet aber ein, dass genau in diesen Ländern die Erfahrung zeigt, dass ein Globalbudget nichts bringt. Sie schauten sich in der Expertengruppe Deutschland und die Niederlande genauer an, dort sind die Gesundheitsausgaben mit etwa 11 Prozent tatsächlich ungefähr gleich hoch wie in der Schweiz.
SG: Aber die Wachstumsrate der Gesundheitsausgaben ist in Deutschland während der letzten Jahre deutlich tiefer als in der Schweiz! Im obligatorischen Bereich sind sie in der Schweiz um jährlich 4,6 Prozent gestiegen, in Deutschland um 3,3 Prozent. Das zeigt: Zielwachstumsraten haben einen Effekt.

«Zum Sparen gibt es gar keine Anreize, weil es keine Budgetrestriktionen gibt.»

Serge Gaillard

PR: Warum dann dieser heftige Widerstand, Herr Schlup? Man könnte ja sagen, das Globalbudget ist einen Versuch wert, wenn es zur Minderung des Wachstums beiträgt?
JS: Es trägt eben überhaupt nichts zur Minderung des Wachstums bei! Ausserdem gibt es Zusatzbelastungen in der Administration, denn es braucht ja Leute, die dieses Budget verteilen. Wenn ich die Kosten für diesen Verteilapparat für die Schweiz hochrechne, dann kostet der uns ein Prämienprozent im Jahr. Einfach so, jedes Jahr ein Prämienprozent mehr. Da bräuchte es auf der anderen Seite gewaltige Einsparungen, damit das etwas bringt.
SG: Die obligatorische Krankenpflegeversicherung ist eine Zwangsabgabe. Es gibt keine andere Zwangsabgabe, die nicht politisch gesteuert ist. Stellen Sie sich vor, der Bund würde das ganze Jahr Ausgaben beschliessen, und Ende Jahr gäbe es Defizit, und es würden ohne Volksbefragung einfach die Steuern erhöht. Genau so funktioniert der Krankenversicherungsbereich! Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man macht Mikroregulierung,
indem man zum Beispiel sagt, bestimmte Operationen darf man nicht mehr
im Spital machen, nur noch ambulant. Solche Ideen gibt es Tausende! Oder man führt eine makroökonomische Steuerung ein, die den Akteuren erstens Verantwortung übergibt und zweitens verhindert, dass man zu viel mikroregulieren muss. Das heisst, die Akteure müssen Kosten-Nutzen-Überlegungen anstellen. Damit bekommen die Ärzte eine wichtige Rolle, denn nur sie können entscheiden, was eine angemessene Versorgung ist.

PR: Herr Schlup, das ist ja genau der Hauptvorwurf an die Ärzte: Sie bieten Hand für viele Veränderungen im Mikrobereich, aber den Mut zum grossen Wurf haben sie nicht.
JS: Wir schlagen sogar noch drei weitere Massnahmen vor!

PR: Aber keine umfassenden, wie das Globalbudget eine wäre.
JS: Ich sage es noch einmal: Das Globalbudget bringt keinen Nutzen, nur Schaden. Erstens: Wenn Sie einen Budgetdeckel haben, ist das Budget irgendwann aufgebraucht. Dann gibt es keine Leistungen mehr. Erklären Sie dem Patienten, dass Sie kein Budget mehr haben und die Operation auf nächstes Jahr verschieben müssen. Aber wir haben durchaus Vorschläge gemacht, die viel bringen: Im Spital sind zum Beispiel zwei Drittel der ärztlichen Tagesleistungen administrative Leistungen, nur ein Drittel findet noch am Patienten statt. In einer Praxis etwa die Hälfte, Tendenz abnehmend. Allein wegen des administrativen Mehraufwands brauchen wir pro Jahr hundert zusätzliche Ärzte an den Spitälern. Hundert Vollzeitarztstellen, nur um den Zuwachs an administrativer Belastung bewältigen zu können! Da könnte man Millionen sparen, jedes Jahr!
SG: Sie wüssten also, wo man sparen müsste, aber man tut es nicht!
JS: Weil die Anreize falsch sind.
SG: Es gibt gar keine Anreize, weil es keine Budgetrestriktionen gibt.
JS: Eine Budgetrestriktion wäre ein falscher Anreiz!
SG: Eben nicht! Sie sind Verbandspräsident. Sie müssten mit den Krankenversicherern und den Kantonen zusammensitzen, Ihren Tarifpartnern, und Massnahmen beschliessen, damit die Kosten im nächsten Jahr nur noch um 3,5 Prozent steigen und nicht mehr um 4,5. Mit einer Budgetvorgabe könnten Sie alle Punkte, die Sie erwähnt haben, zur Diskussion stellen. Dann würde man auf Sie hören mit Ihren Vorschlägen, denn es gäbe einen Zwang.
JS: Niemand hört auf unsere Vorschläge.
SG: Weil es eben keine Richtgrösse gibt!

«Wenn Sie Gesundheitsleistungen kürzen, dann bekommen Sie ethische Konflikte.»

Jürg Schlup

PR: Herr Gaillard, lassen Sie mich noch einmal auf das Argument von Herrn Schlup zurückkommen, dass der Patient der Verlierer ist. Was passiert, wenn das Budget aufgebraucht ist?
SG: Die entscheidende Frage ist doch: Traut man den Ärzten, den Versicherern und den Kantonen zu, das Budget so zu verteilen, dass wir immer noch eine gute Gesundheitsversorgung haben?

PR: Tun Sie es?
SG: Aber sicher, wer soll es sonst tun?
JS: Herr Gaillard, das ist ein Schwarz-Peter-Spiel. Sie und ich wissen, dass Budgetrestriktionen eine implizite Rationierung bedeuten. Wenn Sie wirklich rationieren wollen, schränken Sie doch den Leistungskatalog ein, das wäre transparent und fair. Jetzt alles einfach auf uns abzuschieben, ist unfair. Sie wollen uns zwingen, zulasten des Patienten zu rationieren.
SG: Ich bin überzeugt, dass die Ärzte mehr Einfluss haben und ihre Vorstellung besser durchsetzen können, wenn das in einem begrenzten Kostenrahmen stattfindet. Man könnte umgekehrt sagen: Wenn Sie sich dagegen wehren, entziehen Sie sich der Verantwortung.
JS: Wenn Sie in der Verwaltung Leistungen kürzen, erzeugt das keine ethischen Konflikte. Aber wenn Sie Gesundheitsleistungen kürzen, dann bekommen Sie ethische Konflikte.

PR: Aber, Herr Schlup, Hand aufs Herz: In der Schweiz gibt es eine Überversorgung und viele unnütze Eingriffe, an denen die Leistungserbringer nicht ganz unschuldig sind. Hier gäbe es doch Potenzial?
JS: Dann müsste man über Strukturen und Finanzierung reden. Da haben wir tatsächlich grosses Potenzial. Aber alle vermeiden die Strukturdiskussion. Warum? Weil jeder Gesundheitsdirektor weiss, dass es politischer Selbstmord wäre, wenn er diese Diskussion führen würde.

PR: Aber würde ein Globalbudget nicht auch die Strukturdiskussion befördern?
JS: Überhaupt nicht! Die Interessenkonflikte, die diese Strukturdiskussion verhindern, würden Sie mit dem Globalbudget nicht lösen.
SG: Doch! Schauen wir, was in den Niederlanden passiert ist. Als die Zielwachstumsrate als Rahmenbedingung feststand, einigten sich die Akteure sehr schnell – auch auf strukturelle Massnahmen.
JS: Eine Strukturdiskussion würde mehr bringen als Zielvorgaben und ein Globalbudget. Das führt nur zu einer Rationierung.
SG: Eine Zielwachstumsrate ist keine Rationierung!

PR: Sie wäre eine Folge des Globalbudgets, sagt Herr Schlup.
SG: Nein, das stimmt nicht! In den Ländern, die ich genauer angeschaut habe, haben alle Leute Zugang zu medizinischen Leistungen. Es gibt keinen Arzt, der im Dezember aufhört zu arbeiten, weil das Budget aufgebraucht ist. Es gibt nur Ärzteverbände, die das behaupten. Man hat ja die Erfahrung vom Vorjahr, da kann man ziemlich vernünftig planen. Mit Rationierung hat das nichts zu tun. Es geht nur darum, das Kostenwachstum zu begrenzen.
JS: Lesen Sie «Spiegel online», da gab es dieses Jahr schon drei Artikel über lange Wartezeiten in Deutschland. Wartezeit ist Rationierung. Für einen Kardiologietermin in Nordrhein-Westfalen haben Sie als OKP-Grundversicherter zum Beispiel eine Wartezeit von 90 Tagen, mit einer Zusatzversicherung sind es 20 Tage. In England ist die Wartezeit für eine Hüftoperation zwei Jahre, in der Schweiz wenige Wochen.
SG: Das sind Behauptungen.
JS: Der «Spiegel» beruft sich auf die Bundesärztekammer.
SG: Das ist ein Interessenverband. Ich traue der OECD mehr als dem «Spiegel», und gemäss Patientenbefragungen durch die OECD müssen in Deutschland 12 Prozent der Patienten vier Wochen oder länger auf einen Facharzttermin warten. In der Schweiz sind es 20 Prozent! Ich möchte diese Zahlen nicht überbewerten, aber ich denke, sie sind etwas neutraler als die der Bundesärztekammer. Und was interessant ist: Auf die Frage, ob die Patienten das Gefühl haben, dass der Arzt ihnen genug Zeit widmet, sagen in der OECD-Erhebung 86 Prozent der Deutschen Ja, in der Schweiz sind es 87 Prozent. Die beiden Länder sind also gleichauf.

PR: Wir müssen für einen Vergleich nicht zwingend ins Ausland schauen. Es gibt ja auch in der Schweiz bereits Erfahrungen mit Globalbudgets: In den Kantonen Tessin, Genf und Waadt arbeitet man im stationären Bereich schon heute damit.
JS: Ja, und genau diese Kantone haben die höchsten Prämien.
SG: Und die tiefsten Wachstumsraten im stationären Bereich.
JS: Nun gut, sie sind einfach schon auf einem sehr hohen Niveau. Da hat man tiefere Wachstumsraten, als wenn man auf einem tiefen Niveau ist.
SG: Die Kosten steigen definitiv weniger im stationären Bereich. Aber sie haben ein hohes Niveau, da gebe ich Ihnen recht.
JS: Diese Kantone sind der Beweis, dass Globalbudgets nicht funktionieren.

Serge Gaillard

Serge Gaillard ist seit 2012 Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung. Davor war der Volkswirtschaftler Leiter der Abteilung Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und Zentralsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Zwischen 1998 und 2006 amtete Gaillard zudem als Bankrat der Schweizerischen Nationalbank (SNB) und als Mitglied der Wettbewerbskommission.

Jürg Schlup

Jürg Schlup war 2012 – 2020 Präsident der Verbindung der Schweizer Ärzte (FMH). Davor war er Präsident der Ärztegesellschaft des Kantons Bern und Leiter der Sektion Bern des Verbands Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte (VSAO). Zu Beginn seiner Karriere war er während fast zwanzig Jahren als Hausarzt tätig.

Patrick Rohr

ist Journalist, Moderator, Fotograf und Kommunikationsberater mit eigener Firma in Zürich. Bis 2007 arbeitete er für das Schweizer Fernsehen, unter anderem als Redaktor und Moderator der Sendungen Schweiz aktuell, Arena und Quer.

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