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Suche nach Lösungen für die Tarifpartnerschaft

Es ist Dogma und Mantra von Versicherern und Leistungserbringern zugleich: die Tarifpartnerschaft und die ihr zugrunde liegende Tarifautonomie als unverzichtbare Elemente des gelobten und teuren schweizerischen Gesundheitssystems. Die Praxis zeigt ein anderes Bild. Es stellt sich die Frage, warum Verhandlungslösungen offensichtlich kaum möglich sind und was denn helfen könnte, die Tarifpartnerschaft wiederzubeleben.

Christian Affolter, Verantwortlicher Tarifstrukturen bei der CSS

23. Mai 2018

Warum sind Verhandlungslösungen kaum möglich? Betrachtet man die Tarifpartnerschaft im ambulanten Bereich, zeigen sich drei zentrale Elemente, die diese behindern.

Chancen für die Tarifpartnerschaft

1. Gemeinsame Ziele fehlen: Die Partner haben keine gemeinsamen Interessen und daraus abgeleitete Verhandlungsziele. Es gibt bei jedem Verhandlungsschritt Streit um Geld, das Sachziel einer korrekten Tarifstruktur tritt völlig in den Hintergrund, und das gegenseitige Vertrauen leidet. Weiter treten die einstigen in Spitzenverbänden organisierten Verhandlungspartner nicht mehr geeint auf. Die Versicherer spalteten sich in zwei Verbände und weitere Einkaufsgemeinschaften auf, die Ärzteschaft teilt sich in Spezialisten und Grundversorger, die ihre unterschiedlichen gewerkschaftlichen und standespolitischen Interessen nicht mehr gemeinsam vertreten können. Hinzu kommen noch zwei weitere Probleme: Einerseits sind die Versicherer eher auf der Gewinnerseite, wenn kein Verhandlungsergebnis zustande kommt und allenfalls der Bund den Tarif durchgibt, und andererseits gewinnen die Ärzte, wenn es darum geht, die medizinische Versorgung gegen stabile Prämien abzuwägen.

2. Regulatorische Rahmenbedingungen sind unzulänglich: Da wäre der Vertragszwang, der den Druck des Wettbewerbs sowie den Bedarf an erfolgreichen Verhandlungen stark einschränkt. Zudem kann sich eine gleichgewichtige Verhandlungssituation aufgrund der Informationsasymmetrie nicht einstellen, und eine Verpflichtung zur Transparenz über die zugrunde liegenden Daten gibt es nicht. Schliesslich werden die Genehmigungsbehörden aufgrund der genannten Zersplitterung der Akteure plötzlich mit Tarifgesuchen konfrontiert, die nicht mehr einstimmig von allen Tarifpartnern kommen. Kurz: Es fehlen geordnete Strukturen und Prozesse zur Tarifpflege.

3. Untätigkeit wird nicht bestraft: Es wird Mikado gespielt. Aufgrund fehlender marktwirtschaftlicher Elemente der geltenden gesetzlichen Rahmenbedingungen und fehlender gemeinsamer Interessen sind Verhandlungsresultate für die Partner ein Risiko. Denn für die Versicherer bedeuten diese potenziell höhere Kosten, für die Leistungserbringer potenziell sinkende Einkünfte. Deshalb wird im Schutze der Rechtslage taktiert.

Wiederbelebung der Tarifpartnerschaft

Verhandlungslösungen können bessere Resultate als Verordnungen hervorbringen, vorausgesetzt, die Rahmenbedingungen sind so gesetzt, dass es nicht von vornherein Gewinner und Verlierer gibt und nichts tun keine lohnenswerte Alternative ist. Wie kann es gelingen, einerseits die Gestaltungsfreiheit der Akteure zu fördern und andererseits Blockaden unattraktiv zu machen?

1. Verhandlung unter Gleichgesinnten: Wer verhandeln will und kann, verhandelt über einen gemeinsamen Tarif. Das wären dann wohl nicht mehr Spitzenverbände der Tarifpartner, sondern beispielsweise eine grosse Krankenversicherung mit den Haus- und Kinderärzten oder ein Versichererverband mit einer oder mehreren ärztlichen Fachgesellschaften. Geht es um Pauschaltarife, ist dies problemlos möglich, geht es aber um einen nationalen Einzelleistungstarif, muss die Genehmigungsbehörde einen Festsetzungsentscheid möglicherweise gegen Mehrheiten fällen. Eine notwendige neue Situation, mit der sich das Amt schwertut.

2. Liberale Marktbedingungen: Das heute bequeme Mikado kann durch eine Liberalisierung der (regulatorischen) Bedingungen unattraktiv gemacht werden. Wer keinen oder keinen gescheiten Vertrag abschliesst, soll verlieren. Ein wichtiges Mittel dazu wäre beispielsweise die Aufhebung des Vertragszwangs oder die Aufhebung der Genehmigungspflicht für Tarife und Strukturen.

3. Verschärfung der Regeln: Ein weiteres Mittel gegen Mikado wäre eine Regelung für ein gemeinsames Tarifbüro der Tarifpartner im ambulanten Bereich. Damit könnte durch eine professionelle Instanz einerseits eine datenbasierte Tarifstruktur entwickelt und gepflegt und andererseits Blockaden durch Nichtpartizipation verhindert werden.

„Nur wer verhandeln will, verhandelt über einen gemeinsamen Tarif.“

Christian Affolter

4. Mengen- und Kostensteuerung: Als Kostenbremsen in Frage kommen etwa die Anbindung der Kostenentwicklung an einen Index bzw. punktuelle Vorgaben zu Tarif, Leistung oder zu erbringenden Mengen, sobald Schwellenwerte überschritten werden. Die Wirkungen solcher Kostenbremsen werden kontrovers diskutiert. Rationierung sagen die einen, Qualitätssteigerung und Effizienz die anderen. Unbestritten ist wohl der Druck, auch ökonomische Aspekte in die Tarifverhandlungen mit einzubeziehen. Wichtig in diesen Diskussionen ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit Preisen und Kosten, sondern auch mit Leistungen. Es dient insbesondere einer hochqualitativen Leistungserbringung, wenn man bewusst auf wirkungsarme Behandlungen verzichtet.

5. Staatliche Tarifeingriffe: Mit dem subsidiären Eingreifen in den geltenden Arzttarif ohne Einigung der Tarifpartner entsteht faktisch ein Staatstarif. Die Tarifpartner können jederzeit die Hoheit darüber durch die Aufnahme von Verhandlungen zurückerlangen; die Frage ist einfach, ob sie können oder wollen. Ein behördlich festgesetzter Einzelleistungstarif macht potenziell alle unglücklich. Er hat allerdings zwei ganz wertvolle Eigenschaften: Er ermöglicht erstens die Verhandlung unter Gleichgesinnten, da er – glaubt man den Klagen der Ärzteschaft – äusserst unangenehm wirkt, und zweitens sind seine Kostenwirkungen sozusagen politisch legitimiert.

Die Hebel zur Wiederbelebung der Tarifpartnerschaft setzen an verschiedenen Punkten an und unterscheiden sich nicht zuletzt im Preis ihrer Umsetzbarkeit. Idealerweise finden sich zwei Verhandlungspartner, die verhandeln können und wollen und Lösungen zustande bringen. Dann muss sich niemand an einem unattraktiven Staatstarif stören, der auch in gewisser Weise eine Rahmenbedingung ist. Eines sollte allen klar sein: Wenn Tarifpartnerschaften Zukunft haben sollen, braucht es Kraftakte, um den Boden dazu neu zu ebnen. Sonst werden politische Tarife flächendeckend Einzug halten und die Akteure zu Abrechnungspartnern degradieren.

Christian Affolter

Der Pharmazeut Christian Affolter ist seit 2013 Verantwortlicher Tarifstrukturen bei der CSS. Davor war er Leiter der Direktion Gesundheitspolitik beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) und Leiter der Abteilung Grundlagen bei santésuisse.

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