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Die WZW Kriterien helfen, Pflichtleistungen zu überprüfen

Welche Leistungen übernimmt die Schweizer Grundversicherung im Krankheitsfall? Auf diese scheinbar simple Frage gibt es zwei Antworten, eine einfache und eine komplizierte. Die einfache lautet: Grundsätzlich wird alles, was den WZW Kriterien entspricht und ein zugelassener Arzt oder eine Ärztin verordnet, von der obligatorischen Krankenversicherung übernommen.

Tilman Slembeck, Professor für Volkswirtschaftslehre an der ZHAW und ist Dozent an der Universität St. Gallen

23. Mai 2018

Die obligatorische Krankenversicherung übernimmt grundsätzlich alles, was ein zugelassener Arzt verordnet. Vertrauensprinzip nennt sich dieser überaus liberale und im Vergleich zum Ausland einzigartige Grundsatz in unserem Krankenversicherungsgesetz (KVG) (Artikel 33, Abs. 1 KVG). Medizinerinnen und Mediziner tragen denn auch eine ausserordentlich hohe Verantwortung. Sowohl hinsichtlich der Frage, welche Leistungen im konkreten Falle medizinisch sinnvoll und notwendig sind, als auch bezüglich der Kostenfolgen.

So weit, so gut, so einfach. Bei näherem Hinsehen wird die Antwort aber etwas komplizierter. Das KVG beinhaltet nämlich nicht bloss das Vertrauensprinzip. Es verlangt auch, dass Leistungen im Prinzip wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein müssen (KVG Art. 32). Dass diese sogenannten WZW Kriterien erfüllt sind, wird in den meisten Fällen gemäss Vertrauensprinzip stillschweigend angenommen – allerdings nicht immer.

Die Pflichtleistungen im KVG

Umstrittene Leistungen

Denn einerseits kann es vorkommen, dass einzelne Leistungserbringer deutlich mehr Leistungen abrechnen als vergleichbare Kollegen. Bei einem Verdacht auf eine solche «Überarztung» können die Krankenversicherer ein Wirtschaftlichkeitsverfahren auslösen. Der Leistungserbringer erhält dann die Möglichkeit, seine überdurchschnittlich hohen Kosten zu begründen, z. B. anhand der Zusammensetzung der tatsächlichen Patientenpopulation.

Andererseits kann ein Versicherer, ein Anbieter oder das Bundesamt für Gesundheit (BAG) generell die Frage stellen, ob eine Leistung den WZW-Kriterien entspricht. Ergeben sich bei der Vorprüfung durch das BAG Zweifel, kommt es zu einem Umstrittenheitsverfahren. Ein paritätisches Gremium (die Eidg. Kommission für allgemeine Leistungen und Grundsatzfragen, kurz ELGK) klärt dann – oft unter Beizug von Fachexperten – ab, ob eine bestimmte Leistung den WZW-Kriterien entspricht. Aufgrund einer entsprechenden Empfehlung der Kommission fällt das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) den definitiven Entscheid.

«Das KVG verlangt, dass Leistungen im Prinzip wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein müssen.»

Tilman Slembeck

Im Zentrum dieses Verfahrens steht zunächst die Frage nach der Wirksamkeit einer neuen Leistung / Methode und ob diese einen Zusatznutzen im Vergleich zu bestehenden Alternativen hat. Die Zweckmässigkeit betrifft dann eher Fragen möglicher negativer Nebenwirkungen. Bleibt noch die der Wirtschaftlichkeit, der eine immer grössere Bedeutung zukommt. Hier werden der mögliche medizinische Zusatznutzen und die entstehenden Zusatzkosten gegeneinander abgewogen und mit bestehenden Alternativen verglichen

Seltene Überprüfung

Am weitesten fortgeschritten ist diese Abwägung bei den Medikamenten, weniger ausgeprägt bei anderen Leistungen. Dies deshalb, weil zum Zeitpunkt der Überprüfung verschiedene Einflussfaktoren oft noch unsicher und Informationen unvollständig sind; zum Beispiel die Anzahl und Qualität klinischer Studien, die geforderten Kosten pro Leistung sowie die Frage, wie viele Patienten mit welcher Indikation tatsächlich von der Leistung profitieren können. Wobei gerade der letzte Punkt zentral ist. Auch günstige Leistungen können nämlich mit der Zeit zu hohen Kostenvolumen führen, wenn sie – etwa durch Ausweitung auf weitere Indikationen – bei immer mehr Patienten angewandt werden.

Weil die ELGK ein Milizgremium ist und durch sie pro Jahr lediglich ein gutes Dutzend an Leistungen behandelt werden kann, wird deutlich, dass nur ein sehr geringer Teil der medizinischen Leistungen in der Schweiz jemals systematisch hinsichtlich der WZW-Kriterien überprüft wurde. Dies ist stossend. Denn das Gesetz verlangt eine regelmässige Überprüfung aller Leistungen und insbesondere einen Nachweis der Wirksamkeit mittels wissenschaftlicher Methoden (KVG Art. 32 Abs. 1 und 2).

Der Leistungskatalog

Diese Ausführungen zeigen: In der Schweiz besteht für ärztliche Pflichtleistungen kein Leistungskatalog im Sinne einer umfassenden und abschliessenden Positivliste. Allerdings existiert – auf der Basis des Umstrittenheitsverfahrens – eine Positiv-/Negativliste. Sie umfasst Leistungen, bei denen das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) auf Antrag der ELGK zu einem positiven respektive einem negativen Urteil gekommen ist. Diese Entscheidungen sind im Anhang der Krankenpflege-Leistungsverordnung festgehalten (KLV). Einen umfassenden Katalog aller Pflichtleistungen für ärztliche Leistungen gibt es also nicht. Im Gegensatz zu anderen Bereichen: Nebst der Spezialitätenliste (SL) mit allen Medikamenten, die von den Krankenversicherern bezahlt werden müssen, existiert die Liste der Mittel und Gegenstände (MiGeL) sowie eine Liste mit Laborleistungen – alles abschliessende Positivlisten.

Bei den Arzneimitteln kommt die Liste so zustande: Nach deren Marktzulassung durch Swissmedic kommt die Eidg. Arzneimittelkommission (EAK) zum Zug. Sie prüft die WZW-Kriterien aufgrund von Anträgen der Hersteller und entscheidet, ob ein Medikament auf die Spezialitätenliste kommt und damit kassenpflichtig wird. Dies ist ein fundamentaler Unterschied zu den meisten ärztlichen Leistungen, die nur in Ausnahmefällen überprüft werden.

TARMED = Katalog?

Auch in der Öffentlichkeit bekannt ist der Leistungstarif TARMED. Mit seinen mehr als 4600 Positionen umfasst er nahezu sämtliche ärztlichen und arztnahen Leistungen in der Arztpraxis und im ambulanten Spitalbereich. Es wird zwischen der ärztlichen und der technischen Leistung unterschieden. Jede Leistung erhält im TARMED je nach zeitlichem Aufwand, Schwierigkeit und erforderlicher Infrastruktur eine bestimmte Anzahl von Taxpunkten. Der Frankenwert der Taxpunkte unterscheidet sich je nach Kanton und wird periodisch zwischen den Tarifpartnern neu verhandelt.

Der TARMED ist also nicht mit einem Leistungskatalog vergleichbar. Denn ein solcher würde festhalten, welche Leistungen tatsächlich von den Versicherern übernommen werden müssen. Der TARMED liefert lediglich die Struktur, nach welcher Leistungen abgerechnet werden (Tarifstruktur).

Interessant ist beim TARMED allerdings, dass eine kleine Zahl von Tarifpositionen für den Grossteil der Kosten verantwortlich ist. Konkret verursachen die 30 wichtigsten Leistungen etwa 50 Prozent der Kosten. Es handelt sich dabei insbesondere um Konsultationen und kleine Untersuchungen beim Arzt, psychiatrische Diagnostik und Therapie sowie ärztliche Leistungen in Abwesenheit des Patienten.

Im ambulanten und spitalambulanten Bereich verursachen also nicht wenige sehr teure, sondern viele eher günstige Leistungen den Grossteil der Kosten.

Pro und contra offener Leistungskatalog

Vor allem dank oder vielmehr wegen des Vertrauensprinzips ermöglicht das heutige System eine schnelle und unkomplizierte Einführung neuer Leistungen. Bei echten Innovationen mit diagnostischem oder therapeutischem Mehrwert für die Patientinnen und Patienten ist dies zwar positiv. Gleichzeitig besteht aber die Gefahr, dass zusätzliche Leistungen eingeführt werden, die als Pseudo-Innovationen keinen wirklichen Zusatznutzen erbringen, aber kostentreibend wirken.

Per Gesetz fällt den Versicherern zwar die Rolle des Aufpassers zu. Da ihnen jedoch im ambulanten Bereich die Diagnosedaten fehlen, ist es für sie kaum möglich, Leistungen zu identifizieren, die den WZW-Kriterien widersprechen. Trotz vielen medizinischen Innovationen kommt es deshalb zu vergleichsweise wenigen Umstrittenheitsverfahren. Die eigentlich vom Gesetz verlangte Überprüfung anhand der WZW-Kriterien hat bei vielen ärztlichen Leistungen somit in der Praxis eine recht geringe Bedeutung und findet auch nicht periodisch statt, wie vom Gesetz verlangt.

Zusammenfassend fällt eine gesundheitsökonomische Beurteilung des heutigen Systems nicht leicht. Denn einerseits können Patientinnen und Patienten in der Schweiz davon ausgehen, dass sie vergleichsweise schnell Zugang zu neuen Leistungen haben. Andererseits bleibt häufig unklar, welcher Zusatznutzen damit wirklich verbunden ist.

HTA als Chance

Ein vermehrter Einsatz von sogenannten Health Technology Assessments (HTA; ein Prozess zur systematischen Bewertung medizinischer Technologien, Prozeduren und Hilfsmittel) kann hier helfen. Weil diese Assessments allerdings aufwendig, teuer und zeitintensiv sind, sollten die HTAs verstärkt in Kooperation mit dem Ausland durchgeführt oder von dort übernommen werden.

Grössere Länder – wie Grossbritannien und Deutschland – verfügen über gut ausgebaute wissenschaftliche Institute von hoher Qualität. Von diesen kann die Schweiz stark profitieren, vor allem bezüglich wissenschaftlicher Assessments von Wirksamkeit, Zusatznutzen und Nebenwirkungen. Somit könnten sich die schweizerischen Institutionen, wie die ELGK oder die EAK, im Rahmen des Milizsystems vermehrt auf Fragen der Angemessenheit von Leistungen und entsprechender Kostenübernahme durch Versicherer konzentrieren (sogenanntes Appraisal).

Tilman Slembeck

Prof. Dr. et mag. oec. HSG Tilman Slembeck forscht und unterrichtet als Professor für Volkswirtschaftslehre an der ZHAW und ist Dozent an der Universität St. Gallen. Er war Mitglied der Expertengruppe des Bundesrates, die den Bericht zu Kostendämpfungsmassnahmen zur Entlastung der OKP erarbeitet hat.

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