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Digitale Baustellen in der Grundversorgung

Niemand in der Grundversorgung möchte die digitale Welt missen. Sollen hausärztliche Leistungen künftig jedoch mit mehr Qualität und effizientem Humaneinsatz erbracht werden, muss sich noch einiges ändern.

Dr. med. Philipp Tschopp, Hausarzt und Leiter Gruppenpraxis in Basel

17. Februar 2022

Damit man versteht, wo der digitale Schuh in der Grundversorgung drückt, muss man sich die Entwicklung der letzten Jahre vergegenwärtigen. Als ich im Jahr 2003 eine Praxis in Basel übernahm, gab es darin noch keinen Computer. Der wurde erst ab Januar 2004 nötig, um neu mit Tarmed abrechnen zu können. In den nachfolgenden Jahren wurde ausgebaut: elektronische Anbindung der Laborgeräte, vollelektronische Krankengeschichte und Agenda, E-Mail-Systeme für die wachsende Mail-Flut der Spitäler mit Berichten, aber auch um die Patienten-Kommunikation zu integrieren. Es folgte die elektronische Abrechnung im Tiers payant mit Medi­Data, Behandlungsprozesse im mediX oder die Versorgungsforschung im FIRE. Online-Schnittstellen entstanden für Konsultationsreservationen 24/7 mit onedoc, Cloud-Solutions für Berichte und elektronische Rezepte. Termine in Radiologie­instituten konnten zu jeder Tages- und Nachtzeit direkt gebucht werden und «Patient-Empowerment» durch Dokumenten-Sharing wurden zwischen Telemedizin und Hausarzt im CSS-Multimed-Produkt möglich. Glich die papierene Hausarztpraxis 2001 noch einem alten Opel Manta, so kommt sie im Jahr 2022 als E-Mercedes mit vielen Assistenzprogrammen daher. Doch leider weist das digitale System in der Grundversorgung noch grosse Baustellen auf, die es zu bearbeiten gilt.

Eine Frage der Finanzierung

Heute betragen die Kosten allein für die Instandhaltung des IT-Systems pro Monat zwischen 1000 und 9000 Franken, je nach Praxisgrösse. Hinzu kommen Gebühren für Software und Lizenzen, für Systemerneuerungen sowie zusätzliche Personalkosten (z.B. für den Scan-Aufwand). Diesem wachsenden Posten in jedem Praxisbudget stehen konstante Umsätze in der Grundversorgung gegenüber. Der IT-Maschinenpark amortisiert sich nicht durch den Tarmed, das Unternehmensrisiko für Selbstständige ist gestiegen. Ein weiterer Grund, weshalb jüngere Ärztinnen und Ärzte den Weg in die Grundversorgerpraxen scheuen.

IT-Security als Bedrohung

Die Cyberkriminalität bedroht unsere Hausarztpraxen zunehmend auch im kleineren Massstab, was viele überfordert. In der mediX nordwest führen wir deshalb eine umfassende IT-Sicherheits-Schulung für alle Praxisangestellte durch, mit bereits gutem Erfolg. Das sechsstellige Budget für das Awareness-Training ist nirgends im Tarmed amortisierbar.

«Glich die papierene Hausarztpraxis 2001 noch einem alten Opel Manta, so kommt sie im Jahr 2022 als e-Mercedes mit vielen Assistenz­programmen daher.»

Philipp Tschopp

Reality-Check nicht bestanden

Spannende IT-Ideen für die Praxis bestehen den Reality-Check des Alltags selten. In einem Masterprojekt mit der Medizininformatik der Fachhochschule Bern haben zwei Studentinnen in meiner Praxis einen Chatbot für die Anamneseerhebung entwickelt. Mehr Effizienz und eine bessere Nutzung der Wartezeit sollten daraus resultieren. Leider wollte nur ein kleiner Teil unserer Hausarztpatientinnen und -patienten dieses einfache Tool akzeptieren. Die Schulung unserer Kunden, besonders der vulnerablen älteren Patientinnen und Patienten, im Umgang mit modernen IT-Anwendungen wäre dringend nötig.

Ungelöste Probleme mit Big Data

Neu kommen einige Versicherungspartner mit Datenanalysen auf uns zu, bei denen unser Verhalten in Bezug auf Guidelines oder die Kosten schonungslos offengelegt werden. Die Teilnahme an einer Big Data-Analyse ist einerseits zeitintensiv. Andererseits kann sie – bei unsorgfältiger Bearbeitung – Sprengstoff sein, um langjährige Vertrauensverhältnisse zu zerstören.

Digitalisierung gefährdet Grundversorgerpraxen

Auch junge MPAs sind trotz ihrer digitalen Kenntnisse mit der zunehmenden Datenflut überfordert. Direkte Arbeiten wie Blutentnahme, EKG, Pulsoxymetrie etc. nehmen relativ ab im Vergleich zum steigenden Kommunikationsaufwand mit Patientinnen und Patienten, Apotheken, Spitälern und Versicherungen. Die Tendenz, rasch eine E-Mail zu senden, hat zugenommen. Und so steigt auch der Stress am Arbeitsplatz. Obwohl die moderne Praxis versucht, die MPAs an der Front zu entlasten, zeichnet sich in gewissen Regionen ein Mangel an Praxispersonal ab. Die Verweildauer der MPAs in den Hausarztpraxen verkürzt sich. Die digitale Beschleunigung ist damit einer der Treiber geworden, der die Grundversorgerpraxen gefährdet.

Dr. med. Philipp Tschopp

Dr. med. (Bern), MSc (Canada), seit 1998 Hausarzt, Leiter Gruppenpraxis in Basel. Verwaltungsratspräsident mediX nordwest seit 2006. Theaterarzt in Basel seit 2004.

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