css.ch

Es bedarf mehr als ambulanter Pauschalen

Patientinnen und Patienten sind nicht standardisierbar. Aus Patientensicht bräuchte es somit wesentlich weitreichendere Veränderungen als ambulante Pauschalen.

Susanne Gedamke, Geschäftsführerin der Patientenorganisation SPO

26. Oktober 2021

Nach einer jahrelangen vergeblichen Diagnosefindung wird bei Frau B. eine entzündlich-rheumatische Erkrankung diagnostiziert. Die Therapie gestaltet sich als schwierig, da sie zusätzlich an Diabetes und diversen Allergien und Unverträglichkeiten leidet. Immer wieder stossen die behandelnden Fachpersonen an ihre Grenzen. Frau B.s Behandlung und Betreuung werden von Jahr zu Jahr unkoordinierter und fragmentierter. Ihre Lebensqualität sinkt, während ihre Unsicherheit über die getroffenen Massnahmen steigt. Herr L. wird nach einem Herzinfarkt in einem Spital medikamentös behandelt. Nach einer kurzen Rehabilitation kann er seinen Alltag normal fortsetzen. Die Nachsorge mit seinem Kardiologen funktioniert gut, seine Lebensqualität ist nicht eingeschränkt.

Die beiden Beispiele zeigen vereinfacht: Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten sind differenziert zu betrachten. Je nach Behandlungs- und Betreuungssituation können Leistungen sehr gut oder überhaupt nicht pauschaliert werden. Dies akzentuiert sich bereits im Unterschied zwischen Patientinnen und Patienten mit akuten und chronischen Erkrankungen.

Das Schweizer Gesundheitssystem ist vor allem ein Akutversorgungssystem. Bei akuten gesundheitlichen Problemen, wie jenem von Herrn L., ist es meistens ausreichend, in einer bestimmten Fachdisziplin behandelt und betreut zu werden. Schwierig wird es allerdings, wenn mehrere Fachdisziplinen am Behandlungs- und Betreuungsprozess beteiligt sind. Äusserst komplex werden interdisziplinäre Therapie und Betreuung, wenn es sich um chronisch kranke und multimorbide Patientinnen und Patienten wie Frau B. handelt. In der Schweiz ist fast jede dritte Person ab 15 Jahren von einer chronischen Krankheit betroffen, das sind insgesamt rund 2,2 Millionen Menschen. Fast jede fünfte Person über 50 hat sogar mehr als nur eine Erkrankung.1 Es sind diese Patientengruppen, die mehr als alle anderen darauf angewiesen sind, dass die Koordination und Kommunikation zwischen den Disziplinen reibungslos funktionieren. Umgekehrt ist hier der Schaden in Bezug auf die Behandlungsqualität besonders gross, wenn ebendiese Koordination und Kommunikation nicht funktionieren.

«Aus Patientensicht bräuchte es wesentlich weit­reichendere Ver­änderungen als ambulante Pauschalen.»

Susanne Gedamke

Qualität muss den Preis bestimmen

Wird eine medizinische Leistung erbracht – egal ob durch eine Ärztin, eine Pflegefachperson, den Apotheker oder die Physiotherapeutin –, muss das vergütet werden, was für die Behandelten im Zentrum steht, nämlich die Qualität der Leistung. Die Diskussion über Vergütungssysteme zeigt auf eindrückliche Weise, was passiert, wenn Massnahmen im Gesundheitswesen primär auf Kostendämpfung abzielen: Es werden kleinschrittige Lösungen innerhalb der bestehenden Tarifsysteme gesucht, ohne eine grundsätzliche Neuausrichtung in Betracht zu ziehen, die den Qualitätsaspekt anstatt den Kostenaspekt an erste Stelle stellt. Anders formuliert: Ambulante Pauschalen wären vor allem bei jenen Patientinnen und Patienten anwendbar, welche einem bereits vordefinierten Pfad folgen, wie dies bei Akutproblemen häufig der Fall ist. Sobald komplexe, unsichere Diagnosen oder gar Mehrfacherkrankungen vorliegen, stösst diese Form der Standardisierung an ihre Grenzen.

Fokus auf den gesamten Prozess

Aus Patientensicht bräuchte es somit wesentlich weitreichendere Veränderungen als ambulante Pauschalen, die es oftmals verpassen, den Leistungsbereich klar und umfassend zu definieren. Wirklich dienen würde es, wenn der gesamte Behandlungs- und Betreuungsprozess als Leistung betrachtet werden würde. Die Qualität der Behandlung und Betreuung wäre damit der zentrale Anreiz für Leistungserbringer, die Versorgung an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten zu orientieren. Dies hätte den wichtigen Nebeneffekt, dass die Behandelten mehr in den Prozess miteinbezogen würden. Insbesondere bei chronisch und multimorbid Erkrankten ist dieser Einbezug eine nicht zu unterschätzende Ressource für den Behandlungserfolg – und noch dazu ein wichtiger Aspekt in der Beziehung zwischen Patientin, Patient und Fachperson. Auch der Kostenaspekt würde hier nicht zu kurz kommen: Wäre die Qualität erster Ansatzpunkt des gesamten Behandlungs- und Betreuungsprozesses, würde sich das auch positiv auf die Kosten auswirken, was der Patientenschaft letzten Endes als Prämienzahlende nützt.

Quelle:
1Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (Obsan): Gesundheit in der Schweiz – Fokus chronische Erkrankungen, Nationaler Gesundheitsbericht 2015.

Susanne Gedamke

Susanne Gedamke ist Kommunikations­wissenschaftlerin und Geschäftsführerin bei der Patientenorganisation SPO. Davor leitete sie Forschungsprojekte an diversen Hochschulen und unter­stützte Akteure im Gesund­heitswesen in der Strategieentwicklung. Nebenberuflich ist sie bei einem Zürcher Health-Startup tätig.

©2024 CSS