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Pierre-Yves Maillard und Regine Sauter

Können wir uns das Wachstum der Gesundheitsbranche auf Dauer über sozial finanzierte Zwangs­abgaben noch leisten?

Pierre-Yves Maillard, ist Nationalrat (SP, VD) und Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes.

Regine Sauter, ist Direktorin der Zürcher Handelskammer und Nationalrätin (FDP, ZH)

17. Februar 2021

Pro

Von Pierre-Yves Maillard

Angesichts der demografischen Herausforderungen müssen wir unsere wirtschaftliche Betrachtungsweise auf das Gesundheitswesen zwingend ändern. Allzu lange wurden die Gesundheitsversorgung und Dienstleistungen am Menschen als reine Kostenfaktoren für die Gesellschaft betrachtet. Es ist nur schwer nachvollziehbar, warum der Kauf eines Autos auf Kredit eine gute Investition sein soll und der Kauf von – sozial finanzierten – Gesundheitsleistungen eine schlechte. Was den Unterschied ausmacht, ist die Intensität der Inanspruchnahme innert kurzer Zeit. Diese lässt eine klassische «out of pocket»-Finanzierung bei Gesundheitsdienstleistungen nicht zu.

Wir müssen daher die soziale Finanzierung im Umlageverfahren, welche die Sozialversicherung ermöglicht, auf einer intellektuellen Ebene überarbeiten und weiterentwickeln. Auch braucht es gesetzlich verordnete oder intelligent geförderte Sparlösungen. Andererseits müssen die bereits ins Gesundheitswesen investierten Mittel umverteilt werden. Die Summe von insgesamt über 80 Milliarden an Gesundheitskosten ist im Zuge der Sparmassnahmen, die dem Service public auferlegt wurden, keineswegs gesunken. Vielmehr wurde sie zugunsten privater Akteure umstrukturiert, die weder die kostspieligsten Leistungen übernehmen noch für Patienten aufkommen müssen, die in ihrer Gesundheit und Selbstständigkeit besonders stark ein­geschränkt sind. Die Verknappung des Angebots an Akutbetten oder der Grundversorgung fiel zeitlich mit der Explosion der Ausgaben und den Gewinnen im Bereich der spezialisierten ambulanten Medizin und der Medikamente zusammen. Die derzeitigen Tarifsysteme begünstigen die Hightech-Diagnostik und elektive chirurgische Eingriffe. Die exorbitanten Vergütungen, die von den privaten Versicherern toleriert werden, verstärken diesen Trend in den KVG-Tarifsystemen.

«Der Staat muss die Tarifsysteme und Finanzi­erungsvorschriften grundlegend korrigieren.»

Pierre-Yves Maillard

Der Staat muss die Tarifsysteme und Finanzierungsvorschriften grundlegend korrigieren. Ein Teil der jährlich 80 Milliarden soll auf diejenigen Gesundheitsdienstleistungen umgeleitet werden, die der Bevölkerung am meisten nützen und aufgrund des demografischen Wandels und der gesundheitlichen Bedürfnisse am gefragtesten sind. Dies ist auch notwendig, um die Attraktivität der mit diesen Bedürfnissen verbundenen Aufgaben für die Bevölkerung zu gewährleisten. Um den Bedarf an Gesundheitsleistungen zu finanzieren und unserer Jugend Zehntausende nützliche Arbeitsplätzen bieten zu können, müssen die Grundsätze der Planung, der wirtschaftlichen Sicherheit sowie der zeitversetzten, solidarischen Finanzierung angewandt werden.

Die gegenwärtige Krise zeigt, dass Pflegekapazitäten keine Last sind, sondern eine Ressource, um Krisen zu überwinden und unseren Wohlstand zu erhalten.

Contra

Von Regine Sauter

Diese Frage wirft zwei Fragen gleichzeitig auf: erstens, ob wir uns das Kostenwachstum der Gesundheitsbranche noch leisten können, und zweitens, ob die heutige Finanzierung dieser Kosten noch adäquat ist.

Dass die Gesundheitskosten wachsen, ist objektiv feststellbar. Allerdings haben wir auch eines der besten Gesundheitswesen weltweit: Jedermann hat praktisch immer überall Zugang zu allen Leistungen in höchster Qualität. Gleichzeitig bietet die Gesundheitsbranche Arbeitsplätze, tätigt Investitionen und ist Treiber für Innovationen. Wo ist also das Problem, werde ich oft gefragt. Das «Problem», wenn man so will, ist die Finanzierung dieses Wachstums.
Die steigenden Krankenkassenprämien belasten die Haushaltsbudgets vor allem von mittelständischen Familien, die steigenden Ausgaben der öffentlichen Hand die Budgets von Gemeinden und Kantonen. Die Frage «Finanzieren wir das Richtige und finanzieren wir es richtig?» ist somit keine akademische, sondern eine, mit der wir uns ernsthaft befassen müssen. Zum ersten Teil der Frage:

Das eidgenössische Parlament befasst sich zurzeit mit Massnahmen, die dazu beitragen sollen, den stetigen Anstieg der Gesundheitskosten zu bremsen. Diese sollen Fehlanreize und Ineffizienzen beheben sowie beim Überangebot ansetzen. Das ist ein zielführender Weg.

«Das Problem ist die Finanzierung dieses Wachstums.»

Regine Sauter

Zum zweiten Teil: Die Finanzierung erfolgt heute über Steuergelder, Sozialversicherungen und die Prämien der Versicherten. Dass die Gemeinschaft solidarisch hier einen wesentlichen Teil trägt, somit Reiche für Arme und Junge für Alte bezahlen, ist eine hohe Errungenschaft und für einen wohlhabenden Staat wie die Schweiz angebracht. Allerdings darf diese Solidarität nicht überstrapaziert werden. Bei den Steuern ist die Umverteilung aufgrund der Progression ohnehin immens. Keine gute Idee ist es, ganze Bevölkerungsgruppen gänzlich von der Bezahlung zu befreien, wie dies der Fall wäre, wenn das System ausschliesslich staatlich oder – gemäss den Vorstellungen der politischen Linken – einkommensabhängig finanziert wäre.

Dass jeder seinen Anteil an den Gesundheitskosten über seine eigene Krankenkassenprämie und die Selbst­beteiligung trägt, und dass diese Prämie gleich hoch ist – unabhängig davon, wie viel eine Person verdient – ist richtig. Wer keine Rechnung erhält, sieht auch nicht, was etwas kostet. Und er wird sich auch keine Gedanken darüber machen, ob diese Kosten steigen oder nicht. Der eigene Beitrag ist wichtig, damit man sich selbst auch immer wieder die Frage stellt, ob man damit das Richtige finanziert, mithin, welchen Umgang man mit dem «Konsumgut» Gesundheit pflegt. Wenn andere bezahlen, dann kümmert einem dies nicht.

Zusammenfassend: Das Wachstum können und sollen wir uns nicht leisten, hier müssen wir ansetzen. Dann hingegen ist die Finanzierung auch für unsere Gesellschaft tragbar.

Pierre-Yves Maillard

ist Nationalrat (SP, VD) und Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Von 2004 bis 2019 leitete er als Staatsrat des Kantons Waadt das Departement für Gesundheit und Fürsorge.

Regine Sauter

ist Direktorin der Zürcher Handelskammer. Daneben ist sie Nationalrätin (FDP) und Mitglied der Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit. Sie hat Einsitz in diverse Verwaltungsräte und Gremien.

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